Das Opfer
Wenn ich nicht stehenbleibe? Wenn ich näher komme? Oder wenn ich zurücktrete? Was bringt Sie dazu, abzudrücken?«
»Sie wollen es wissen, ja? Meinetwegen, finden Sie’s raus.«
O’Connell machte wieder einen Schritt auf sie zu.
»Das reicht. Und die Hände hoch, wenn ich bitten darf.« Catherine brachte die Worte so ruhig heraus, wie sie konnte, und hoffte, dass sie entschlossen klangen. Doch ihre Stimme war flach und dünn. Vielleicht auch zum ersten Mal wirklich alt.
O’Connell schien die Entfernung zwischen ihnen abzuschätzen.
»Catherine, richtig? Catherine Frazier. Sie sind Hopes Mutter, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Darf ich Sie Catherine nennen? Oder hätten Sie’s lieber förmlich? Ich möchte nicht unhöflich sein.«
»Sie können mich nennen, wie Sie wollen, denn Sie werden nicht lange bleiben.«
»Na ja, Catherine …«
»Nein, ich hab’s mir anders überlegt, ich ziehe Mrs. Frazier vor.«
Er nickte wieder mit einem Gesicht, als hätte sie einen Witz gemacht.
»Nun ja,
Mrs. Frazier
, ich hab auch nicht vor, lange zu bleiben. Ich möchte nur mit Ashley sprechen.«
»Sie ist nicht da.«
Er schüttelte den Kopf und grinste. »Mrs. Frazier, Sie stammen bestimmt aus gutem Hause und haben später Ihrer eigenen Tochter beigebracht, dass es unrecht ist zu lügen, besonders einem Menschen direkt ins Gesicht. Das macht den anderen wütend. Und wer wütend ist, nun ja, der tut schreckliche Dinge, nicht wahr?«
Catherine zielte weiter auf O’Connell. Sie strengte sich an, ihren Atem in den Griff zu bekommen, und schluckte.
»Sind Sie zu schrecklichen Dingen fähig, Mr. O’Connell? Denn in diesem Fall sollte ich am besten gleich jetzt auf Sie schießen und den Abend traurig enden lassen. Traurig für Sie.«
Catherine wusste nicht, ob sie nur bluffte. Sie konzentrierte sich mit aller Macht auf den Mann vor ihren Augen und war kaum in der Lage, etwas anderes als ihn und die kurze Entfernung, die sie beide trennte, zu sehen. Sie merkte, wie ihr der Schweiß die Arme herunterlief, und fragte sich, wiesoO’Connell eigentlich nicht nervös war. Er schien gegen den Anblick einer Waffe immun zu sein. Sie hatte das irritierende Gefühl, dass er sich amüsierte.
»Wozu ich in der Lage bin und wozu Sie – das sind interessante Fragen, nicht wahr, Mrs. Frazier?«
Catherine holte Luft und kniff die Augen zusammen, als zielte sie. O’Connell schlenderte unbeeindruckt durchs Zimmer und machte sich mit seinem Zuschnitt vertraut.
»Faszinierende Fragen, Mr. O’Connell. Aber jetzt wird es Zeit für Sie zu gehen. Solange Sie noch am Leben sind. Gehen Sie und kommen Sie nie wieder. Und vor allem, lassen Sie Ashley in Ruhe.«
Auch wenn O’Connell grinste, entging Catherine nicht, wie er seine Umgebung inspizierte. Sie sah, dass sich hinter seinem Grinsen etwas derart Düsteres, Beunruhigendes verbarg, dass sie sich keine Vorstellung davon machen konnte.
Als er das Wort ergriff, sprach er mit gedämpfter Stimme. »Sie ist ganz nahe, nicht wahr? Ich merke das. Sie ist hier ganz in der Nähe.«
Catherine sagte nichts.
»Ich glaube, Mrs. Frazier, Sie haben etwas nicht begriffen.«
»Und das wäre?«
»Ich liebe Ashley. Sie und ich sind füreinander geschaffen.«
»Sie irren, Mr. O’Connell.«
»Wir sind ein Paar. Wir passen zueinander, wie Topf und Deckel, Mrs. Frazier.«
»Ich glaube nicht, Mr. O’Connell.«
»Ich werde tun, was nötig ist, Mrs. Frazier.«
»Das glaube ich Ihnen. Dasselbe gilt für andere.«
Das war das Mutigste, zu dem sie sich in diesem Moment aufschwingen konnte.
Er schwieg und musterte sie von oben bis unten. Sie nahm an,dass er kräftig, muskulös und geschmeidig war. Wahrscheinlich war er so schnell wie Hope, nur sehr viel stärker. Falls er es darauf anlegte und die wenigen Schritte wagte, die ihn von ihr trennten, wäre es eine Sache von Sekunden. Sie saß, sie war wehrlos – einzig die uralte Schrotflinte konnte ihn davon abhalten zu tun, wozu er gekommen war. Mit einem Schlag fühlte sie sich schrecklich alt, als trübte sich ihre Sehkraft, als hörte sie nur noch schwer und könne sich nur noch langsam bewegen. Er schien mit einer einzigen Ausnahme in jeder Hinsicht im Vorteil zu sein. Und dabei hatte sie keine Ahnung, ob er – unter der Jacke oder in der Hosentasche eine Waffe bei sich trug. Eine Pistole? Ein Messer? Sie keuchte.
»Ich glaube, dass Sie nicht begreifen, Mrs. Frazier. Ich werde Ashley immer lieben. Und die Vorstellung, dass Sie oder ihre Eltern
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