Das Opfer
verblichenen Schlacken- und Ziegelsteinen und stellte sich vor, dass derselbe Architekt, der diese Highschool entworfen hatte, sonst vermutlich Gefängnisse baute. Davor parkte eine Reihe gelber Schulbusse mit laufenden Motoren und erfüllte die Luft mit starkem Dieselgestank. Eine ausgefranste amerikanische Flagge hatte sich um den Mast gewickelt und mit der Fahne von New Hampshire verheddert. Beide flatterten zuckend in der steifen Brise. Seitlich befand sich ein hoher, rostiger Maschendrahtzaun. Auf einem Vordach waren zwei Botschaften zu lesen:
Auf in den Kampf!
Und:
Ab sofort Anmerdung zur Aufnahmeprüfung!
Niemand schien den Schreibfehler bemerkt zu haben.
Auch Scott hatte sich eine Kopie von Murphys Bericht in die Jackentasche gestopft. Er enthielt nicht mehr als ein erstes Skelettvon O’Connells Vergangenheit, und Scott war entschlossen, die Knochen mit Fleisch zu füllen. O’Connells Highschool bot so gut wie jeder andere Ansatzpunkt einen logischen Einstieg, auch wenn das, was er hier erfahren würde, zehn Jahre alt war.
Er hatte einen deprimierenden Morgen damit verbracht, die Welt in Augenschein zu nehmen, in der O’Connell aufgewachsen war. Die Küstenregion von New Hampshire ist ein Ort der Widersprüche; der Atlantik verleiht ihr große Schönheit, doch die Industrie, die sich überall dort angesiedelt hatte, wo Flüsse sich ins Meer ergossen, war abweisend und herzlos, eine Phalanx an Schornsteinen und Bahnhöfen, Lagerhäusern und Hüttenwerken, die rund um die Uhr arbeiteten. Es war, als blickte man am helllichten Tage auf eine viel zu alte Stripperin in einem heruntergekommenen Club.
Die Gegend, in der Michael O’Connell aufgewachsen war, wurde vom Schiffsbau beherrscht. Riesige Kräne, die tonnenweise Stahl bewegen konnten, ragten in den grauen Himmel. Hier war es im Sommer so heiß wie im Winter kalt, und die Menschen trugen den ganzen Tag über Schutzhelme, Overalls und schwere, ramponierte Stiefel. Die Leute, die auf den Werften arbeiteten, waren stämmig und stetig und ebenso unverzichtbar wie das schwere Gerät, das sie bedienten. Härte galt hier als höchste Tugend.
Scott fühlte sich gänzlich fehl am Platze. Als er im Auto saß und die Schülerscharen aus dem Gebäude kommen sah, kam er sich vor wie von einem anderen Stern. In seiner Welt wurden die Studenten auf einen Weg zum Erfolg gebracht, der mit all den Statussymbolen einherging, welche Amerika so gern vorzeigte: dicke Wagen und Bankkonten, große Häuser. Die Teenager, die er auf ihrem Weg zu den Bussen beobachtete, hegten bescheidenere Träume, vermutete er, und viele von ihnenwürden in einer Fabrik mit einem langen Arbeitstag und Stechuhr enden.
Wenn ich in dieser Gegend aufwachsen würde, dachte er, würde ich alles daransetzen, hier wegzukommen.
Als die vollbeladenen Busse sich langsam auf den Weg machten, stieg er aus und lief schnell zum Schultor hinüber. Ein Wachmann, der in der Nähe stand, verwies ihn ans Haupt büro. Dort standen mehrere Sekretärinnen hinter einer Theke. Er konnte an ihnen vorbei den Schuldirektor sehen, der in müdem Ton eine Schülerin mit weinrotem Stachelhaar und schwarzer Lederjacke sowie Ohr- und Augenbrauenpiercings belehrte. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine junge Frau.
»Ich hoffe«, erwiderte Scott. »Mein Name ist Johnson. Ich arbeite für Raytheon; wissen Sie, wir kommen aus der Gegend von Boston. Wir wollen gerade einem jungen Mann eine Stelle anbieten. In seinem Lebenslauf steht, dass er hier vor zehn Jahren seinen Highschool-Abschluss gemacht hat. Wissen Sie, wir haben eine Reihe Regierungsaufträge, deshalb müssen wir alles doppelt überprüfen.«
Die Sekretärin drehte sich zu ihrem Computer um. »Der Name?«
»Michael O’Connell.«
Sie drückte einige Tasten. »Abschlussjahrgang 1995.«
»Haben Sie irgendetwas, womit Sie uns vielleicht helfen können?«
»Noten und andere Daten kann ich nicht ohne schriftliche Genehmigung rausgeben.«
»Ja, sicher«, sagte Scott. »Na jedenfalls, vielen Dank.«
Er zögerte einen Moment, während die Sekretärin sich wieder daranmachte, Unterlagen elektronisch abzuspeichern. Scotts Blick traf sich mit dem einer älteren Frau, die gerade in dem Moment aus einem Büro des stellvertretenden Direktors herausgekommenwar, als er O’Connells Namen genannt hatte. Sie schien mit sich zu kämpfen. Dann ging sie mit einem kleinen Achselzucken zu ihm herüber.
»Ich kannte ihn«, erklärte sie. »Er bekommt einen
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