Das Opfer
nahm noch einen Schluck Tee. Hope sah, wie ihre Augen in einer Anwandlung von Ärger blitzten. »Ja. Oder wie finden Sie das, wenn sie an den neuen Wohnungen nicht mal die Schlösser auswechseln? An den Türen, die mal zu
meiner
Wohnung gehörten.«
Hope nickte. Sie fühlte plötzlich eine Spannung wie einen elektrischen Schlag.
»Ich wüsste zu gerne, was er mit meinen Katzen gemacht hat«, erklärte Mrs. Abramowicz langsam. Ihre Augen verengten sich, ihre Stimme wurde tiefer, und Hope erkannte, dass mit der Frau nicht zu spaßen war. »Und ich denke, Sie wollen über Ihren Socks Klarheit haben. Es gibt nur eine Möglichkeit, sich Gewissheit zu verschaffen, nämlich reinzugehen.« Sie beugte sich vor, so dass sie nur noch einen halben Meter von Hopes Gesicht entfernt war, als sie flüsterte: »Er weiß es nicht, aber ich habe einen Schlüssel zu seiner Wohnungstür.«
»Nun«, sagte sie, während sich ihr ein Schatten übers Gesicht legte. »Sehen Sie jetzt, was auf dem Spiel stand?«
Jeder Reporter weiß, dass zwischen dem Chronisten und seinem Gegenstand eine natürliche Verführungskraft besteht. Vielleicht geht es auch nur darum, dass er instinktiv weiß, wie er einer Quelle die schwierigsten Geschichten entlocken kann. Dennoch war mir bewusst, dass sie die Gespräche lenkte, und zwar von Anfang an. Unsere Treffen waren Rendezvous zum Zweck der Information, nur dass ich sie beim Erzählen der Geschichte ebenso für meine Absichten nutzen würde wie sie mich jetzt.
Sie schwieg eine Weile, bevor sie fragte: »Wie oft bekommen Sie von Ihren Freunden im mittleren Alter zu hören, sie wollten am liebsten alles ändern? Etwas anderes sein, als was sie sind? Sie wünschten sich, es würde etwas passieren, das ihr Leben auf den Kopf stellt und sie aus ihrer öden, tödlichen Routine herausreißt?«
»Schon oft«, erwiderte ich.
»Die meisten Menschen lügen, wenn sie sagen, sie wollten eine solche Veränderung, weil Veränderungen viel zu beängstigend sind. In Wahrheit wollen sie nur ihre Jugend wiederhaben. In der Jugend sind alle Möglichkeiten Abenteuer. Erst im mittleren Alter fangen wir an, unsere Entscheidungen zu hinterfragen. Wir haben einen Weg eingeschlagen, und jetzt müssen wir ihn auch gehen, nicht wahr? Dann wird es auf einmal zum Problem. Wir gewinnen nicht im Lotto. Stattdessen ruft unser Chef uns herein und eröffnet uns, wir würden wegrationalisiert. Der Mann oder die Frau, mit dem oder der wir seit zwanzig Jahren verheiratet sind, eröffnet uns: ›Ich habe jemanden kennengelernt, ich werde weggehen.‹ Der Arzt sieht vom Bluttest auf und sagt: ›Diese Zahlen gefallen mir nicht, ich werde weitere Untersuchungen veranlassen.‹«
»Scott und Sally …«
»Für sie hatte Michael O’Connell diesen Augenblick geschaffen,beziehungsweise dieser Moment kam rasch auf sie zu. Konnten sie Ashley beschützen?«
Sie legte plötzlich die Hand auf den Mund, und ich hörte einen tiefen Seufzer. Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen. »Weil sie, ohne dass es einer von ihnen ausgesprochen hatte, da jedenfalls noch nicht, alle letztlich wussten, dass sie für das, was sie erreichen wollten, einen hohen Preis bezahlen würden.«
35
Alle in einem Boot
Hope stand unbehaglich mit dem Schlüssel zur Wohnungstür von Michael O’Connell im Flur. Hinter ihr lauerte Mrs. Abramowicz an ihrer eigenen Tür, und die Katzen strichen ihr um die Füße. Sie drängte Hope.
»Ich halte Wache. Es passiert schon nichts. Beeilen Sie sich nur«, flüsterte die alte Frau.
Hope holte einmal tief Luft und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ihr war weder ganz klar, was sie hier eigentlich machte, noch, wonach sie suchte oder was sie zu erfahren hoffte. Doch sie hatte den Schlüssel in der Hand, und als er sich mit einem leisen Klicken drehte, stellte sie sich vor, wie O’Connell den Bürgersteig entlang auf das Haus zukam und im abendlichen Dämmerlicht jeden Moment hinter ihr stehen würde. Sie spürte förmlich seinen Atem an ihrem Ohr, glaubte seine zischende Stimme zu hören. Sie biss die Zähne zusammen und sagte sich, falls es hart auf hart kam, würde sie sich mit aller Kraft wehren. »Schnell, meine Liebe«, drängte Mrs. Abramowicz, »finden Sie raus, was er mit meinen Katzen macht.«
Hope drückte die Tür auf und trat ein.
Sie war unschlüssig, ob sie sie hinter sich zumachen oder auflassen sollte, um – ja, was?, dachte sie. Wenn er zurückkommt, sitze ich hier in der Falle. Keine
Weitere Kostenlose Bücher