Das Opfer
Hintertür. Keine Feuerleiter. Kein Fluchtweg weit und breit. Sie atmete tief durch und lehntedie Wohnungstür an. Zumindest hoffte sie, ein Warnzeichen von Mrs. Abramowicz zu hören, falls die alte Dame dazu imstande war.
Hope warf einen Blick auf die Wohnung. Sie war schmuddelig und vernachlässigt. Ganz offensichtlich hatte O’Connell keinen Sinn für seine unmittelbare Umgebung. Keine bunten Poster an den Wänden, keine Topfpflanzen im Fenster, keine mehrfarbige Brücke auf dem Boden. Weder Fernseher noch Stereoanlage. Nur ein paar zerfledderte Handbücher zu Computerkursen in einer hinteren Ecke. Die Wohnung war karg und schäbig, von der Einfachheit einer Mönchsklause. Das irritierte Hope, denn sie erkannte, dass O’Connell seine ganze Leidenschaft in seine Phantasien steckte. Er lebte in einer anderen Welt, die mit dem Ort, an dem er sich abends schlafen legte, wenig gemein hatte.
Zügig ging sie ein paar Schritte weiter, holte noch einmal tief Luft und machte in diesem Moment einen Plan.
Präge dir alles ein, sagte sie sich. Mache dir ein vollständiges Bild.
Sie griff in ihre Jackentasche und fand einen Zettel. Auf einem kleinen Schreibtisch entdeckte sie einen billigen Stift. Augenblicklich zeichnete sie einen groben Grundriss und wandte sich wieder zum Schreibtisch.
Er bestand aus einer billigen Holzplatte auf zwei schwarzen Aktenschränken. Der einzige Stuhl im Raum, aus Holz, mit steifer Rückenlehne, stand vor einem Laptop. Das Ganze war von äußerster Schlichtheit; sie stellte sich Michael O’Connell vor, wie er, das Gesicht in metallisches Licht getaucht, vor dem Bildschirm saß und sich auf die Bilder vor ihm konzentrierte. Der Laptop schien neu zu sein. Er war geöffnet, der Stecker eingestöpselt, und es leuchtete ein Lämpchen.
Hope hielt die Luft an, horchte auf irgendwelche Geräuschevom Flur und setzte sich vor den PC. Sie notierte sich Fabrikat und Modell. Dann starrte sie auf den schwarzen Bildschirm. Wie ein Arbeiter, der nach einem nackten Stromkabel greift, berührte sie zögerlich das Mousepad in der Mitte. Es surrte, dann leuchtete der Bildschirmschoner auf.
Hope merkte, wie ihr der Mund trocken wurde und sich ihr die Kehle zusammenschnürte.
Sie blickte auf ein Bild von Ashley.
Es war nicht hundertprozentig scharf und offensichtlich in Eile und aus geringer Entfernung aufgenommen. Sie drehte sich um, als habe sie ein plötzliches Geräusch hinter ihr erschreckt. Ihr Gesicht war angstverzerrt.
Hope starrte auf das Bild und hörte, wie ihr Atem kurz und flach wurde. Die Aufnahme, die O’Connell als Bildschirmschoner ausgesucht hatte, sprach Bände und verhieß nichts Gutes. O’Connell liebte den Moment, in dem er Ashley überrascht und verängstigt hatte.
Das war Liebe, dachte sie, und zwar die übelste Sorte.
Sie biss sich auf die Lippe, bewegte den Kursor auf EIGENE DATEIEN und klickte sie an. Sie stieß auf vier Unterverzeichnisse:
Ashley Liebe. Ashley Hass. Ashley Familie. Ashley Zukunft
.
Sie klickte das erste an, doch es erschien nur ein Fenster: »Geben Sie Ihr Passwort ein.«
Sie bewegte den Kursor auf
Ashley Hass
.
Wieder blinkte ihr dieselbe Aufforderung entgegen.
Hope schüttelte den Kopf. Sie traute sich zu, das Passwort herauszubekommen, wenn sie nur lange genug sitzen blieb und darüber nachdachte, doch sie machte sich schon jetzt Sorgen darüber, wie lange sie bereits in der Wohnung war. Immer noch atemlos, schloss sie sämtliche Dateien und versetzte den Laptop wieder in den ursprünglichen Zustand. Dann zog siedie Schubladen auf, fand sie aber bis auf ein paar verstreute Bleistifte und einen Stoß Druckerpapier leer.
Als sie aufstand, fühlte sie sich ein wenig schwindelig. Beeil dich, mahnte sie sich. Du spielst mit dem Feuer.
Sie sah sich um. Schau im Schlafzimmer nach.
Der Raum roch nach Schweiß und mangelnder Hygiene. Sie lief zu einer ramponierten Kommode und wühlte, so schnell sie konnte, den Inhalt durch. Auf einem Bettgestell befand sich eine Matratze, darauf eine verkrumpelte Decke. Sie ging in die Knie und sah unter dem Bett nach. Nichts. Sie ging zu dem kleinen Schrank. Darin hingen ein paar Jacken und Hemden. Ein einziges schwarzes Sakko. Zwei Krawatten. Ein Anzughemd und eine graue Hose. Nichts Besonderes. Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie in der hintersten Ecke des Schranks einen einzelnen verbeulten alten Arbeitsstiefel entdeckte, in den er eine dreckverkrustete Sportsocke gestopft hatte. Der Schuh war teilweise hinter
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