Das Opfer
ließ, und trat, mit dem Gesicht zum Fahrstuhl, zurück. Als er ihr Stockwerk erreichte, sah sie das Licht in der Kabine.
Sie war wie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen.
Der Fahrstuhl schien zu halten, fuhr aber doch weiter zum nächsten Stock.
Ihre Ohren dröhnten vor Adrenalin, so dass jedes Geräusch gleich einem Echo jenseits einer Schlucht wie von ferne kam.
Sie machte blitzschnell eine Bestandsaufnahme von ihrem Herzen, ihrer Lunge, ihrem Kopf, um festzustellen, was noch funktionierte und was durch die Angst außer Kraft gesetzt war.
Hinter ihr öffnete Mrs. Abramowicz die Tür einen Spaltbreit weiter und streckte den Kopf heraus.
»Falscher Alarm, meine Liebe. Haben Sie rausbekommen, was mit meinen Katzen passiert ist?«
Hope holte tief Luft und versuchte, ihren Puls zu normalisieren. Als sie wieder sprechen konnte, klang ihre Stimme kalt. »Nein«, log sie. »Nirgends eine Spur von ihnen.«
Sie sah eine gewisse Enttäuschung in den Augen der alten Frau.
»Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen«, erklärte Hope steif. Doch sie war geistesgegenwärtig genug, den Schlüssel zu Michael O’Connells Wohnung in die Jackentasche zu stecken, während sie kehrtmachte und Richtung Notausgang hastete. Sie wusste, dass das Warten auf den Fahrstuhl ihre Geduld überstieg.
Hope taumelte, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter, während sich ihr Magen immer noch stoßweise verkrampfte. Mit gekrümmten Schultern hastete sie voran, um endlich nachdraußen zu gelangen. Als sie aufsah, erblickte sie in der Tür zur Eingangsdiele eine Gestalt im Dunkeln. Die Angst erdrückte sie beinahe, bis sie erkannte, dass es nur zwei andere Mieter waren, die ins Haus hineinkamen. Einer von ihnen schnaubte, »He!«, als sie sich hastig an ihnen vorbei in die kalte Nacht schob und für das Dunkel, das ihr entgegenschlug, ein Dankgebet zum Himmel schickte. Die letzten Stufen bis zum Gehsteig sprang sie fast, bevor sie, ohne sich noch einmal umzuschauen, die Straße überquerte, die Wagenschlüssel zückte und sich endlich auf den Fahrersitz warf. Innerlich hörte sie eine Stimme, die eindringlich mahnte:
Hau ab! Worauf wartest du?
Sie wollte gerade aus der Parklücke fahren, als sie aufsah und noch einmal zusammenzuckte.
Michael O’Connell schlenderte auf der anderen Straßenseite den Bürgersteig entlang.
Sie folgte ihm mit den Augen, als er vor dem Gebäude stehenblieb, in der Tasche nach dem Schlüssel kramte und, ohne auch nur ein einziges Mal in ihre Richtung zu sehen, die Treppe hinaufging und im Haus verschwand. Sie wartete und sah wenig später die Lichter seiner Wohnung angehen.
Hope hatte Angst, er könnte irgendwie bemerken, dass sie da gewesen war. Dass sie etwas durcheinandergebracht hatte, etwas nicht wieder so hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatte. Sie legte den Gang ein und fuhr auf die Straße. Ohne sich umzusehen, steuerte sie die nächste Ecke an, wendete und passierte auf einer breiten Straße einige Häuserblocks, bis sie eine andere Stelle fand, an der sie halten konnte. Sie fuhr in die Lücke und überlegte. Wie lange? Drei Minuten? Vier? Fünf? Wie viele Sekunden hatten gelegen zwischen ihrem Einbruch und seiner Rückkehr?
Ihr Magen zog sich immer noch zusammen, und die Übelkeit siegte. Hope öffnete die Tür und erbrach still und unerkanntden ganzen Earl-Grey-Tee von Mrs. Abramowicz in den Rinnstein.
Am folgenden Morgen machte sich Scott schon früh an die Arbeit. Kurz vor Sonnenaufgang stand er in seinem billigen Motelzimmer auf und fuhr im Dämmerlicht des Novembertags zu einer Stelle direkt gegenüber dem Haus, in dem Michael O’Connell aufgewachsen war. Er stellte den Motor ab und blieb sitzen, bis die erste Winterkälte ins Wageninnere kroch. Es war eine triste Straße, besser als ein Wohnwagenpark, aber nicht viel. Die allesamt dringend reparaturbedürftigen Häuser duckten sich an den Straßenrändern. Von den Traufen schälte sich die Farbe, die Dachrinnen hatten sich aus ihren Verankerungen gelöst, kaputtes Spielzeug, aufgegebene Autos und demontierte Schneemobile verunstalteten mehr als einen Eingangsbereich. Fliegengittertüren klapperten im Wind. Einige Fenster waren mit einem robusten Stück Plastik notdürftig ausgebessert worden. Es war augenscheinlich ein Viertel bar jeder Hoffnung. Es war ein Ort, an dem sich die Ambitionen auf ein Sechserpack Bier, einen Lottoschein und ein Motorrad beschränkten, auf Tattoos und einen Samstagabend, an dem man sich volllaufen ließ.
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