Das Opfer
es jedenfalls. Manche meinen, sie hat sich das Leben genommen. Andere geben ihrem Alten die Schuld. Die Polizei hat die Sache ziemlich gründlich unter die Lupe genommen. War wohl verdächtig. Aber dann haben sie es fallenlassen. Vielleicht stand damals was in der Zeitung, keine Ahnung. Ist vor meiner Zeit passiert.«
Der Hund bellte erneut, und Scott trat von der Tür zurück.
»Vielen Dank auch«, sagte er. »Nur noch eins. Bitte behandeln Sie das hier vertraulich. Wenn die Leute anfangen zu reden, dann erschwert das unsere weiteren Befragungen.«
»Ach so, ja, sicher.« Die Frau schob den Hund mit dem Fuß zurück und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Hey, könnt ihr da unten in Massachusetts den Alten nicht gleich zusammen mit dem Jungen hinter Gitter bringen? Dann hätten wir hier bedeutend mehr Ruhe.«
Scott arbeitete sich den restlichen Vormittag durch das Viertel, indem er sich jeweils als einen anderen Typ von Ermittler ausgab. Ein einziges Mal fragte ihn jemand, ob er sich ausweisen könnte, und er trat schnell den Rückzug an. Er erfuhr nicht allzu viel. Die Familie O’Connell war hier länger ansässig als die meisten Nachbarn, und der Eindruck, den die Leute von ihnen hatten, schränkte ihre Kontakte stark ein. In einer Hinsicht war die mangelnde Beliebtheit der Familie für Scott von Vorteil: Die Leute waren bereit zu reden. Doch was sie zusagen hatten, bestätigte nur, was Scott bereits wusste oder vermutete.
Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass der alte O’Connell das Haus verlassen hätte, auch wenn Scott sich sagte, dass er sehr wohl hinausgeschlüpft sein konnte, während er selbst gerade mit dem einen oder anderen Nachbarn sprach. Immerhin hatte sich ein kleiner schwarzer Dodge-Pick-up den ganzen Tag über noch nicht von der Stelle gerührt. Scott ging davon aus, dass es sich dabei um O’Connells Fahrzeug handelte.
Er wusste, dass er auch an die Tür klopfen musste, doch er war sich noch nicht sicher, als was er sich vorstellen sollte. Er beschloss, erst noch einen weiteren Vorstoß in der örtlichen Stadtbücherei zu unternehmen und etwas über die näheren Umstände des Todes von Mrs. O’Connell in Erfahrung zu bringen.
Die Bibliothek war im Unterschied zu den schäbigen Häusern in den Nebenstraßen und auf dem ehemaligen Farmland ein stattliches, zweistöckiges Gebäude aus Glas und Backstein, das an den neuen Komplex der Stadtverwaltung und Polizei grenzte.
Scott ging zur Haupttheke, und eine zarte Frau, vielleicht fünf, sechs Jahre älter als Ashley, sah von ihrer Arbeit auf. Sie war dabei, jeweils Ausleihkärtchen in die Innenseite der hinteren Buchdeckel zu stecken, und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja. Haben Sie Highschool-Jahrbücher im Archiv? Und können Sie mir sagen, wo die hiesigen Zeitungen auf Mikrofilm gelagert werden?«
»Sicher. Die Mikrofilme finden Sie da drüben.« Sie deutete auf einen Nebenraum. »Und die Sammlung ist klar gekennzeichnet. Soll Ihnen jemand mit dem Apparat helfen?«
Scott schüttelte den Kopf. »Ich komm schon klar. Und die Jahrbücher?«
»Bei den Nachschlagewerken. Nach welchem Jahrgang suchen Sie denn?«
»Lincoln High, Abschluss von 1995.«
Die junge Frau machte ein überraschtes Gesicht und grinste dann. »Mein Jahrgang. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Kannten Sie einen jungen Mann namens Michael O’Connell?«
Sie erstarrte. Einen Moment lang sagte sie nichts.
Scott las der jungen Frau vom Gesicht ab, dass eine Flut an schlechten Erinnerungen sie überrollte.
»Was hat er angestellt?«, flüsterte sie schließlich.
Sally brütete über einer Reihe juristischer Bücher und Überblicksartikel, ohne genau benennen zu können, wonach sie suchte. Je mehr sie las, je mehr sie in Erwägung zog, je mehr sie analysierte, desto schlimmer fühlte sie sich. Es war etwas vollkommen anderes, stellte sie bitter fest, sich intellektuell mit Verbrechen auseinanderzusetzen, kriminelle Handlungen in der abstrakten Welt des Gerichtssaals auf der Grundlage von Argumenten und Beweismaterial, von Fahndungsergebnissen, Festnahmen, gerichtsmedizinischen Erkenntnissen und Geständnissen zu beleuchten und sich dann auf ein funktionierendes Strafrechtssystem zu verlassen. Dieses System diente dem Zweck, der Menschheit strafbare Handlungen auszutreiben. Es neutralisierte die greifbare Realität eines Verbrechens und verlieh ihm geradezu eine theatralische Note. Sie war mit der Vorgehensweise vertraut. Was sie jetzt versuchte,
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