Das Opfer
und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie ohnehin bald mehr erfahren würde. Sie zog die Augenbrauen hoch, als Catherine aus den Nebenstraßen auf einen breiten Boulevard einbog, dann zur Highway-Auffahrt einschwenkte und in die Richtung fuhr, aus der sie erst wenige Tage zuvor geflohen waren.
»Wo soll’s hingehen?«
»Zu einem Kaff nur ungefähr eine Dreiviertelstunde nördlich von hier«, sagte Catherine beschwingt. »Vielleicht zweihundert Meter von der Grenze zwischen Massachusetts und dem ehrwürdigen Bundesstaat Vermont.«
»Und was haben wir da zu suchen?«
Catherine lächelte. »Wie gesagt, einen Mann. Die Sorte, mit der bis jetzt weder du zu tun gehabt hast noch ich, würde ich behaupten.« Ihr Lächeln verflog, und in strengerem Ton fügte sie hinzu: »Vielleicht finden wir ein bisschen Sicherheit.«
Mehr erklärte sie nicht, und Ashley fragte nicht nach, auchwenn sie bezweifelte, dass Sicherheit so leicht zu finden war, auch jenseits der Grenze nach Vermont.
Scott verließ die Stadtbibliothek in Eile. Er hatte eine wahrlich beunruhigende Geschichte gehört, so wie sie die amerikanische Kleinstadt schrieb – eine Mischung aus Gerüchten, Verdächtigungen, Eifersucht und Übertreibung, gepaart mit einem wahren Kern, ein paar Fakten und einigen Möglichkeiten. Von Geschichten wie dieser ging eine gewisse radioaktive Strahlung aus. Wenn auch für das bloße Auge nicht erkennbar, zeitigen sie eine gefährliche Wirkung.
»Sie müssen wissen«, hatte die Bibliothekarin ihm anvertraut, »wie unerfreulich der Tod von Michael O’Connells Mutter war.«
»Unerfreulich« schien Scott die Sache kaum zu treffen.
Es gibt Beziehungen, die von Anfang an nichts Gutes verheißen und am besten nie zustande gekommen wären, aber aus irgendeinem teuflischen Grund dennoch eingegangen werden und eine tödliche Dynamik entwickeln. In so ein häusliches Umfeld war Michael O’Connell hineingeboren worden: ein gewalttätiger Vater, meist betrunken, der das Zuhause mit Wutausbrüchen zusammenschweißte; und eine Mutter, die an der Highschool die Abschlussrede gehalten hatte und ihre vielversprechende Zukunft an einen Mann verschwendete, der sie in ihrem ersten Jahr am Community College verführte. Ein gutes Aussehen, eine gewisse Ähnlichkeit mit Elvis, sein dunkles Haar, sein muskulöser Körperbau, der gutbezahlte Job bei der Werft, der schnelle Wagen und das fröhliche Lachen hatten seine dunkleren Seiten verborgen.
Die Polizei ging samstagabends bei den O’Connells ein und aus. Ein gebrochener Arm, ausgeschlagene Zähne, Blutergüsse, Sozialarbeiter, Fahrten zur Notaufnahme waren ihr Hochzeitsgeschenkgewesen. Im Gegenzug hatte er eine gebrochene Nase abbekommen, die sein Gesicht entstellte, nachdem sie falsch behandelt worden war, und mehr als einmal musste er seine Frau in Schach halten, wenn sie ein Küchenmesser schwang. Es war der sattsam bekannte Kreislauf aus Beschimpfung, Gewalt und Verzeihen, der sich wohl endlos fortgesetzt hätte, wäre nicht zweierlei passiert: Der Vater stürzte, und die Mutter erkrankte.
O’Connell senior rutschte bei der Arbeit von einer Stelle in etwa zehn Meter Höhe und schlug auf einem Stahlträger auf. Er hätte tot sein müssen, verbrachte aber stattdessen ein halbes Jahr im Krankenhaus, wo er sich von einigen gebrochenen Wirbeln erholte und eine Schmerzmittelabhängigkeit entwi ckelte. Zugleich bezog er von nun an eine beträchtliche Versicherungssumme und Arbeitsunfähigkeitsrente, die er größtenteils bei unzähligen Runden Bier im örtlichen Kriegsveteranenlokal verprasste oder an dubiose Geschäftemacher verlor, die das schnelle Geld versprachen. In der Zwischenzeit bekam O’Connells Mutter Gebärmutterkrebs. Die Operation und ihre eigene Tablettenabhängigkeit machten das Leben noch unsicherer.
In der Nacht, in der O’Connells Mutter einen Tag nach seinem Geburtstag starb, war der Junge dreizehn.
Was Scott von der Bibliothekarin wie auch aus dem Zeitungsarchiv erfahren hatte, war so beunruhigend wie verwirrend. Beide Eltern hatten getrunken und sich gestritten; das war, nach Aussage einiger Nachbarn, schon eine Weile so gegangen, aber im üblichen Rahmen, so dass niemand sich zu einem Notruf bemüßigt fühlte. Am frühen Abend allerdings, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, hatte es einen lautstarken Ausbruch gegeben und danach zwei Schüsse.
Die Schüsse waren der fragliche Teil der Geschichte. Einige der Nachbarn konnten sich genau daran erinnern, dass
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