Das Opfer
vergewissern, dass sie friedlich schliefen. Als ich zurückkam, murmelte meine Frau: »Alles in Ordnung?«, und war schon wieder eingeschlafen, bevor ich antworten konnte. Ich ließ den Kopf ins Kissen sinken und starrte in die endlosen Winkel der Dunkelheit.
Am nächsten Tag rief ich sie an.
»Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mit einigen der Hauptfiguren in diesem Drama spreche«, verkündete ich schroff. »Ich schiebe das schon viel zu lange vor mir her.«
»Ja. Ich habe damit gerechnet, dass Sie irgendwann mit dieser Forderung kommen würden. Ich kann nur nicht sagen, wer bereit wäre, mit Ihnen zu sprechen.«
»Sie sind damit einverstanden, dass ich ihre Geschichte erzähle, aber nicht bereit, mit mir zu reden?«, fragte ich ungläubig.
Als sie sich wieder meldete, spürte ich, wie sie mit sich kämpfte;wir bewegten uns offenbar auf einen kritischen Punkt zu. Ich kam der Sache näher.
»Ich habe Angst«, sagte sie.
»Angst? Wovor?«
»Es steht so viel auf dem Spiel. Ein Leben steht gegen einen Tod. Hoffnung gegen Verzweiflung. Es geht um so viel.«
»Ich kann sie finden«, erklärte ich unvermittelt. »Ich habe es nicht nötig, Ihr Katz-und-Maus-Spiel mitzumachen. Ich könnte Universitätsverzeichnisse wälzen. Datenbanken von Anwälten oder dergleichen. Mir Websites über Studenten ansehen, solche von lesbischen Frauen. In die Chatrooms von Psychopathen gehen, was weiß ich. Irgendwo werde ich genug Informationen bekommen, um mit dem, was ich von Ihnen weiß, reale Namen, Orte und Fakten zu verbinden.«
»Glauben Sie, ich hätte Ihnen nicht die Wahrheit erzählt?«
»Doch. Ich sage ja auch nur, dass ich inzwischen genug weiß, um alleine weiterzumachen.«
»Sicher, aber dann würde ich nicht mehr ans Telefon gehen, wenn Sie anrufen. Und vielleicht würden Sie nie erfahren, was wirklich passiert ist. Sie kennen vielleicht ein paar Fakten, und Sie können sich vielleicht den Rest zusammenreimen, so dass Sie eine Menge Material zu einer Geschichte hätten – das Fleisch vielleicht, aber nicht die Knochen. Möchten Sie das riskieren?«
»Nein«, gab ich nach, »das will ich nicht.«
»Dachte ich mir.«
»Ich akzeptiere Ihre Spielregeln. Aber nicht mehr sehr lange. Ich bin mit meiner Geduld bald am Ende.«
»Ja, das höre ich Ihnen an.« Doch es klang nicht so, als ob es sie im Mindesten beeindrucken würde. Damit legte sie auf.
36
Figuren auf dem Schachbrett
Ashley schmollte immer noch, weil sie von der wichtigsten Entscheidung, die sie je in ihrem Leben zu treffen haben würde, ausgeschlossen war. Catherine fühlte sich durch Hopes, Scotts und Sallys unvernünftige Entscheidung weniger außer Gefecht gesetzt. Sie verbrachte eine Stunde am Telefon und wählte eine Nummer nach der anderen, bevor sie Ashley beiseite nahm und sagte: »Es gibt Arbeit für uns beide.«
Ashley stand mit einer Tasse Kaffee in der Küche und starrte auf Nameless’ leeren Napf. Niemand hatte es fertiggebracht, ihn wegzuräumen. Sie war verspannt und kam sich vor, als wäre sie an einen Mast gefesselt, während rings umher Dinge geschahen, die eng mit ihr verbunden waren, ohne dass sie sehen konnte, was.
»Und was?«
»Nun ja«, erklärte Catherine leise, »es liegt mir nicht, außen vor zu bleiben und den anderen zuzusehen.«
»Mir auch nicht.«
»Ich denke, wir sollten ein paar Schritte unternehmen, und zwar solche, die vielleicht noch kein anderer in der Familie in Erwägung gezogen hat.« Catherine hielt ihre Autoschlüssel hoch. »Fahren wir los«, schlug sie kurz angebunden vor.
»Und wo soll’s hingehen?«
»Wir treffen uns mit einem Mann«, antwortete Catherine munter. »Einem äußerst unappetitlichen Burschen, fürchte ich.«
Ashley musste wohl ein wenig überrascht gewirkt haben, denn die Ältere grinste. »Das ist genau das, was wir brauchen. Einen widerwärtigen Menschen.« Sie machte kehrt und lief, Ashley im Schlepptau, Richtung Wagen. »Deine Eltern und Hope müssen von diesem Ausflug nichts erfahren«, meinte sie, als sie auf die Straße fuhr. Ashley schwieg, während Catherine Gas gab und wiederholt in den Rückspiegel schaute, um sicherzugehen, dass ihnen niemand folgte. »Wir brauchen Hilfe von jemandem, der aus einer anderen Welt kommt. Mit anderen Werten. Zum Glück«, sagte sie mit einem Seufzer, »kenne ich bei mir daheim ein paar Leute, die jemanden kannten, der haargenau meiner Vorstellung entspricht.«
Ashley brannten einige Fragen auf der Zunge, doch sie lehnte sich zurück
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