Das Opfer
allem, was wir bis jetzt wissen, ernsthaft glauben, dass er gegen die Verfügung verstößt, ohne Ashley etwas anzutun, so dass wir wiederum strafrechtlich gegen ihn vorgehen könnten? Was, nicht zu vergessen, ein langwieriger Vorgang ist, währenddessen er auf Kaution frei herumlaufen würde.«
»Nein, verflucht noch mal«, murmelte Scott.
Sally sah ihm ins Gesicht. »Der Mann, den du getroffen hast … der Vater …«
»Ein absoluter Mistkerl. Bösartig im höchsten Maße.«
Sally nickte. »Und sein Verhältnis zu seinem Sohn?«
»Er hasst sein Kind. Sein Kind hasst ihn. Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Was weißt du über diesen Hass?«
»Er war gewalttätig, sowohl gegenüber O’Connells Mutter als auch gegen seinen Sohn; der Typ, der sich volllaufen lässt und dann freigebig Schläge austeilt. In der gesamten Nachbarschaft verschrien. Für jedes Kind muss er ein Alptraum gewesen sein, von O’Connell ganz zu schweigen.«
Sally schnappte nach Luft und bemühte sich nach Kräften, das, was sie zu sagen hatte, weniger verrückt klingen zu lassen, als es tatsächlich war. »Würdest du sagen«, formulierte sie mit Bedacht, »dass dieser Mann gewissermaßen, aus psychologischer Sicht, der Grund dafür ist, dass O’Connell so geworden ist?« Scott nickte. »Keine Frage. So viel kann jeder Hobby-Freudianer sagen.«
»Gewalt bringt Gewalt hervor«, resümierte Sally.
»Ja.«
»Ashley ist demnach in dieser bedrohlichen Lage, weil dieser Mann vor Jahren bei seinem eigenen Kind ein ungesundes, wahrscheinlich mörderisches und obsessives Bedürfnis geweckt hat, geliebt zu werden, jemanden unter seine Kontrolle zu bekommen, ich weiß nicht, ihn zu zerstören oder zerstört zu werden, wie immer man es ausdrücken mag.«
»Genau das war mein Eindruck.« Er kam jetzt langsam in Schwung. »Und da ist noch etwas. Die Mutter – die wahrlich auch kein Engel war – ist unter fragwürdigen Umständen gestorben. Es könnte durchaus sein, dass er sie getötet hat. Man konnte es ihm nur nicht beweisen.«
»Dann hätte er nicht nur einen Mörder herangezogen, sondern wäre selbst einer?«, hakte Sally nach.
»Ja, so könnte man sagen.«
»Wenn wir uns also für einen Moment in die Vergangenheit zurückversetzen«, fuhr Sally fort und offenbarte ihre ganze Verzweiflung in ihren Worten, »würdest du dann nicht auch sagen, dass die Gefahr, die O’Connell für unsere Ashley darstellt, ihren psychischen Ursprung in seinem Vater hat?«
»Ja.«
»Dann«, sagte sie abrupt, »ist es einfach.«
»Was ist einfach?«, fragte Hope.
Sally lächelte, auch wenn an dem, was sie zu sagen hatte, absolut nichts Erfreuliches war. »Statt dass wir Michael O’Connell töten, bringen wir seinen Vater um. Und finden einen Weg, es seinem Sohn anzuhängen.«
Wieder herrschte Schweigen im Raum.
»Das ist nur logisch«, schob Sally hastig nach. »Der Sohn hasst den Vater. Der Vater hasst den Sohn. Folglich wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn ein Zusammentreffen zwischen den beiden tödlich enden würde.«
Scott nickte bedächtig.
»Sind nicht die beiden zusammen ziemlich eindeutig die Wurzel der Gefahr für Ashley?«
Bei diesen Worten wandte sich Sally an Hope, die ebenfalls nickte.
»Sind wir zu einem Mord fähig?«, fragte Sally. »Könnten wir – selbst aus den allerbesten Motiven – jemanden ermorden und dann am nächsten Tag aufwachen und so weitermachen wie bisher, als wäre nichts geschehen?«
Hope sah zu Scott. Keine leichte Frage in seiner Situation, dachte Hope.
Jedes weitere Wort von Sally war eine Ohrfeige. »Machen wir uns nichts vor, Mord verändert alles. Aber der entscheidende Punkt wäre, dass wir Ashley helfen, wieder an ihr Leben vor Michael O’Connell anzuknüpfen. Das wäre wahrscheinlich zu schaffen – vorausgesetzt, wir halten sie fast gänzlich aus allem heraus. Was nicht gerade leicht sein wird. Aber wir drei, wir schmieden das Mordkomplott. Uns wird es verändern, nicht wahr? Denn in diesem Moment, mit dieser Unterredung, überschreiten wir eine Grenze. Bis zu diesem Punkt sind wir die Guten gewesen, die versuchen, Ashley vor dem Bösen zu beschützen. Denn, egal was Michael O’Connell getan haben oder was er planen mag, wir sind
wir
. Er wird von nachvollziehbaren psychischen Kräften getrieben; seine Bösartigkeit stammt aus seiner Kindheit und Jugend, aus seinen häuslichen Verhältnissen, was weiß ich. Wahrscheinlich kann er im Grunde nichts dafür, dass er so geworden ist. Er
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