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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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die Frage in den Sinn, wer der Mann wohl gewesen war. Nicht, dass es ihn wirklich interessierte. Er brauchte nicht einmal seinen Namen zu erfahren. In ein, zwei Stunden würde das Mädchen – das Einzige, was ihn mit dem Mann verband, den er in der Gasse hatte liegenlassen – in ihrer Wohnung schlafen und nicht das Geringste davon ahnen, was in dieser Nacht vorgefallen war. Wenn es ihr später bewusst wurde, würde sie vielleicht zur Polizei gehen. O’Connell bezweifelte es, aber es war immerhin möglich. Doch was konnte sie denen schon sagen? In seiner Hosentasche hatte er eine abgerissene Kinokarte. Nicht gerade ein wasserdichtes Alibi, doch es deckte den Zeitraum ab, in dem es zu dem Kuss gekommen war. Und ein Polizist, der ihr sowieso nicht glaubte, würde sich vermutlich damit zufriedengeben, besonders nachdem die Brieftasche und die Kreditkarten an anderen Enden der Stadt aufgetaucht waren.
    Er lehnte den Kopf zurück und horchte auf das Geräusch des U-Bahnzugs, eine seltsame Musik, die in der unablässigen Reibung von Metall an Metall mitschwang.
     
    Kurz vor fünf Uhr morgens hatte Michael O’Connell seine vorletzte Haltestelle erreicht. Er suchte sie sich nach dem Zufallsprinzip aus und trat in der Gegend von Chinatown, in der Nähedes Bankenviertels im Zentrum, in die Dunkelheit. Die meisten Geschäfte hatten die Rollläden heruntergelassen, und der Bürgersteig war menschenleer. Er brauchte nicht lange, bis er ein Münztelefon gefunden hatte, das funktionierte. Er zitterte vor Kälte und zog sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf, so dass er wie ein Mönch unerkannt blieb. Er verlor keine Zeit. Er wollte nicht, dass ihn die letzte Polizeistreife dieser Nacht entdeckte und anhielt, um ihm unangenehme Fragen zu stellen.
    O’Connell steckte fünfzig Cent ein und wählte Ashleys Nummer. Es klingelte fünf Mal, bevor er ihre verschlafene Stimme hörte. »Hallo?«
    Er wartete, um ihr ein, zwei Sekunden Zeit zum Wachwerden zu lassen.
    »Hallo?«, fragte sie zum zweiten Mal. »Wer ist da?«
    Er entsann sich an ein billiges, weißes, tragbares Telefon neben ihrem Bett. Keine Anruferkennung. Hätte auch keinen Unterschied gemacht.
    »Du weißt, wer«, sagte er sanft.
    Sie antwortete nicht.
    »Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich liebe, Ashley. Wir sind füreinander bestimmt. Niemand kann zwischen uns treten.«
    »Michael, hör auf, mich anzurufen«, sagte sie. »Ich will, dass du mich in Ruhe lässt.«
    »Ich brauche dich nicht anzurufen«, antwortete er. »Ich bin immer bei dir.«
    Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt. Am wirkungsvollsten ist eine Bedrohung dann, überlegte er, wenn sie unausgesprochen bleibt.
     
    Als er endlich in seine Wohnung kam, dämmerte schon fast der Morgen.
    Vielleicht ein halbes Dutzend Katzen seiner Nachbarin strichen durch den Flur, miauten und machten andere lästige Geräusche. Eine von ihnen fauchte, als er näher kam. Die alte Frau, die gegenüber wohnte, besaß über ein Dutzend, wenn nicht zwanzig Katzen, die sie alle mit unterschiedlichen Namen rief, und für eine Streunerin, die zufällig vorbeikam, schob sie immer noch einen Fressnapf dazu. Sie schienen zu kommen und zu gehen, wie es ihnen gefiel. Sie hatte sogar eigens ein Katzenklo im Flur aufgestellt, damit sie ihr Geschäft machen konnten, wodurch es unangenehm stank. Die Katzen kannten Michael O’Connell, er kannte die Katzen, und er kam mit ihnen kein bisschen besser zurecht als mit ihrer Besitzerin. Für ihn waren sie Streuner, vielleicht eine Stufe über Ungeziefer. Er musste in ihrer Gegenwart niesen und bekam tränende Augen, und außerdem wachten sie mit raubtierartiger Aufmerksamkeit über sein Kommen und Gehen.
    O’Connell trat gezielt nach einer gescheckten Katze, die in seiner Nähe herumstrich, verfehlte sie aber knapp. Nicht mehr ganz in Form, sagte er sich, nach einer langen, doch aufregenden Nacht. Während er seine Wohnungstür aufschloss, jagten die Gescheckte und ihre Gefährten davon. Er warf einen Blick zu Boden und stellte fest, dass ein letztes schwarzweißes Exemplar mit einem goldbraunen Fleck noch in der Nähe des Fressnapfs lungerte. War wohl neu hier, dachte er, oder einfach nur dumm, wenn sie nicht auf die anderen hörte, die einen Bogen um ihn machten. Die alte Frau stand frühestens in einer Stunde auf, und er wusste, dass sie immer schlechter hörte. Er warf einen Blick den Flur entlang. Auch von den anderen Mietern schien noch niemand auf zu sein. Ihm war

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