Das Opfer
schleierhaft, wieso sich sonst niemand über die Katzen beschwerte, und er hasste sie alle dafür. Da war das alte Ehepaar aus Costa Rica, das gebrochen Englisch sprach. Ein Puertoricaner,den O’Connell in Verdacht hatte, sein Einkommen als Maschinist durch den einen oder anderen Bruch aufzubessern, hauste in einem der anderen Apartments. Im Stockwerk über ihm wohnten ein paar Examenssemester, die von Zeit zu Zeit einen durchdringenden Marihuanageruch ins Treppenhaus entließen, und ein grauhaariger, bleicher Handelsvertreter, der in seiner Freizeit auf die Tränendrüse drückte und sich ansonsten seiner Flasche widmete. Abgesehen von seinen Beschwerden über die Katzen beim Hausverwalter – einem älteren Mann mit pechschwarzen Trauerrändern unter den Fingernägeln, einem Akzent, dass man kein Wort verstand, und einer Einstellung zu seinem Beruf, die vor allem signalisierte, man solle ihn ja mit Reparaturen in Ruhe lassen – hatte O’Connell mit den Hausbewohnern herzlich wenig zu schaffen. Er bezweifelte, dass einer von denen auch nur seinen Namen kannte. Es war alles in allem eine schäbige, kalte Bleibe, für die einen Endstation, für die anderen eine Zwischenlösung, mit einer Unbeständigkeit, die ihm gefiel. Er machte die Tür auf und überlegte, ob die alte Frau über ihre Viecher den Überblick behalten konnte. Er bezweifelte, dass sie ihre genaue Zahl wusste. Oder dass es ihr auffallen würde, wenn eine fehlte.
Blitzschnell bückte er sich und packte die Schwarzweiße grob um die Körpermitte. Die Kreatur kreischte einmal lautstark und ging mit den Krallen auf ihn los.
Er betrachtete den roten Kratzer auf seinem Handrücken. Die dünne Linie Blut würde ihm sein Vorhaben sehr erleichtern.
Ashley Freeman ließ sich aufs Bett zurückfallen.
»Ich bin in Schwierigkeiten«, murmelte sie leise.
Sie blieb so liegen und wagte sich kaum zu rühren, bis die Sonne zwischen den rüschenbesetzten Jungmädchengardinen hindurch langsam in ihr Zimmer drang. Sie folgte dem Lichtstrahl,der sich ihr gegenüber die Wand entlangtastete, mit den Augen. Sie hatte ein paar von ihren eigenen Arbeiten dort aufgehängt, ein paar Kohlezeichnungen, die sie in einem Aktzeichenkurs angefertigt hatte, eine vom Oberkörper eines Mannes, die ihr besonders gefiel, die Rückenansicht einer Frau, die sinnlich kurvenreich die Fläche füllte. Außerdem hing dort ein Selbstporträt, das ein bisschen ungewöhnlich war, da sie nur eine Hälfte ihres Gesichts sorgfältig gezeichnet und die andere wie verschattet undefiniert gelassen hatte.
»Das kann einfach nicht sein«, sagte sie, diesmal ein wenig lauter.
Natürlich war ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was
das
eigentlich besagte. An dieser Stelle noch nicht.
Ich rief sie am selben Tag an und hielt mich nicht mit Höflichkeiten oder Small Talk auf, sondern kam gleich zur Sache: »Wie war Michael O’Connells Obsession zu erklären?«
Sie seufzte. »Das müssen Sie selbst herausfinden. Aber können Sie sich denn nicht erinnern, wie es ist, jung und elektrisiert zu sein, wenn man völlig überraschend einen Höhepunkt der Leidenschaft erreicht? Der One-Night-Stand, die Zufallsbegegnung. Sind Sie schon so alt, dass Sie sich nicht erinnern können, wie man sich fühlt, wenn nichts unmöglich scheint?«
»Okay, meinetwegen«, sagte ich vielleicht ein wenig übereilt. »Nur dass all diese Momente mehr oder weniger harmlos waren, schlimmstenfalls peinlich. Fehler, die einem vielleicht die Schamesröte ins Gesicht treiben, oder Momente, die man für sich behält und keiner Menschenseele anvertraut. Doch hier geht es um etwas anderes. Ashley hat in einem schwachen Moment einen falschen Schritt gemacht und sich unversehens in einem undurchdringlichenDornengestrüpp wiedergefunden. Nur dass ein solches Gestrüpp nicht notwendigerweise tödlich ist, Michael O’Connell dagegen schon.«
Nach einer Pause sagte ich: »Ich habe Will Goodwin gefunden. Nur dass er nicht Goodwin heißt.«
Ihre Worte kamen stockend über die Leitung. »Gut. Dann haben Sie vermutlich etwas Wichtiges dazugelernt. Zumindest sollte es Ihnen gezeigt haben, wozu Michael O’Connell fähig ist. Aber das markiert nicht den Anfang und vermutlich auch nicht das Ende. Ich weiß nicht. Es liegt bei Ihnen, das herauszufinden.«
»In Ordnung, aber …«
»Ich muss los. Aber Ihnen ist klar, nicht wahr, dass Sie an demselben Punkt stehen wie seinerzeit Scott Freeman, bevor es für ihn so richtig …
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