Das Opfer
verschiedener Altersstufen wartete unter dem Dach der Haltestelle. Er passte dazu; an einem Community College konnte ein Student neunzehn oder neunundfünfzig sein. Er achtete darauf, Blickkontakt mit den anderen zu meiden. Er befahl sich, an neutrale Dinge zu denken und möglichst unsichtbar zu sein.
Als der Bus kam, fand er ziemlich weit hinten einen Sitz für sich allein. Er drehte sich zum Fenster und blickte auf die braune, verwitterte Landschaft, die an ihnen vorüberglitt. Scott stieg an seiner Haltestelle als Einziger aus.
Einen Moment lang blieb er allein an der Straße stehen und beobachtete, wie der Bus in der Abenddämmerung ver schwand.Dann machte er sich die Straße entlang auf den Weg. Er lief schnell, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Er wusste nur, dass Eile von entscheidender Bedeutung war.
Fotos vom Schauplatz eines Verbrechens haben etwas Unwirkliches an sich. Es kommt einem ein bisschen so vor, als versuchte man, sich einen Film aus einer Serie von Standfotos zusammenzusetzen, statt die bewegten Bilder zu sehen. Hochglanz, Multicolor, im Format zwanzig mal fünfundzwanzig, wirken sie wie Teile eines großen Puzzles.
Ich versuchte, mir jede Aufnahme einzuprägen, und starrte sie an wie die Seiten eines Buchs.
Der Kommissar saß mir gegenüber und betrachtete mein Gesicht.
»Ich versuche, mir das Ganze vorzustellen«, erklärte ich, »damit ich besser verstehe, was passiert ist.«
»Nehmen Sie die Bilder als Linien auf einer Landkarte«, erklärte er. »Alle Tatorte ergeben früher oder später einen Sinn. Auch wenn ich zugeben muss, dass das hier kein Spaziergang war.«
Er beugte sich vor und wühlte in den Fotos.
»Sehen Sie.« Er deutete auf das ramponierte, verkohlte Mobiliar. »Manchmal kommt es eben auf die Erfahrung an. Man lernt, nicht nur das Durcheinander zu sehen, und dann erkennt man die Zeichen.«
Ich starrte auf die Bilder und versuchte, sie mit seinen Augen zu sehen.
»Und was?«, fragte ich.
»Es hat einen Kampf gegeben. Einen schrecklichen Kampf.«
43
Die offene Tür
Scotts Erkundungsgang durchs Viertel einige Tage zuvor hatte ihm geholfen, die richtige Stelle zu finden, an der er warten konnte. Er wusste, dass er nicht auffallen durfte. Falls ihn irgendjemand sah und den dunkel gekleideten Mann, der um diese abendliche Stunde das Haus von O’Connell beobachtete, mit dem Mann in Anzug und Krawatte in Verbindung brachte, der so viele Fragen gestellt hatte, würde das ernste Probleme bereiten. Doch er musste die Frontseite des Hauses im Blick behalten, besonders die Einfahrt. Dabei durfte er auf keinen Fall die Aufmerksamkeit von Hunden oder Bewohnern in der Nachbarschaft erregen. Die Stelle, die er sich ausgesucht hatte, war vielleicht ein bisschen weit entfernt, erfüllte aber ihren Zweck. Die baufällige alte Scheune mit dem halb eingesackten Dach war nur noch ein Schandfleck in der Landschaft. Von der Ecke aus, an der er kauerte, sah er gerade noch den Eingang zu O’Connells Haus. Er rechnete damit, dass O’Connell mit Wut fuhr und vielleicht sogar mit quietschenden Reifen um die letzte Ecke bog, so dass der Schotter aufspritzen würde, wenn er auf das Grundstück schwenkte, wo er einmal zu Hause gewesen war. Mach möglichst viel Lärm, flüsterte er, als könnte O’Connell ihn hören, damit dich auf jeden Fall jemand sieht. In den Nachbarhäusern brannte Licht. Scott sog die kalte Luft ein. Er sah, wie an den Fenstern hier und da Gestaltenvorbeihuschten, und registrierte das allgegenwärtige blaue Flackern von Fernsehbildschirmen.
Er hielt sich die Hand vors Gesicht, um zu sehen, ob sie zitterte. Ein bisschen vielleicht, aber nicht so schlimm, dass es etwas ausgemacht hätte.
An diesem Abend würden sich eine Menge Dinge klären, sagte er sich. Es würde sich zum Beispiel erweisen, was für ein Mensch er war, und das Gleiche galt für Sally und auch für Hope.
Einen Moment lang dachte er an Hope und merkte, wie in ihm Panik aufstieg.
Ich kenne sie nicht, dachte er. Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, was für eine Persönlichkeit sie ist.
Und doch hing in diesem Moment alles in seinem Leben an ihren Fähigkeiten.
Scott bekam nur schwer Luft, als er sich plötzlich fragte, wie sie alle miteinander auch nur einen Moment lang hatten glauben können, sie wären in der Lage, etwas Wirklichkeit werden zu lassen, das ihnen so gänzlich fremd war. In diesem kurzen Augenblick des Zweifels hörte er das Geräusch eines heranbrausenden
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