Das Opfer
wie wir sie oft hier haben, diedie Welt nicht verstehen. Er hatte so etwas, ich weiß nicht, Lässiges an sich. Er sah gut aus. War gut gebaut. Aber er hatte eine gefährliche Ausstrahlung. Als interessierte er sich nicht im Mindesten für irgendetwas anderes als seine, na ja, seine unausgesprochene Agenda. Und wenn man ihn genau betrachtete, erkannte man einen wirklich irritierenden Blick in seinen Augen. Als wollte er einem sagen: ›Komm mir nicht in die Quere.‹
Wissen Sie, einmal hat er eine Hausarbeit eingereicht, ein paar Tage nach dem Abgabetermin, also habe ich gemacht, was ich in jedem Kurs gleich in der ersten Stunde ankündige: Ich habe die Arbeit für jeden Tag, den sie verspätet war, eine Note heruntergesetzt. Er kam in meine Sprechstunde, um mir zu sagen, das wäre unfair von mir. Sie können sich wohl denken, dass das nicht die erste Beschwerde eines Studenten über eine Note war. Aber bei O’Connell lief das Gespräch irgendwie anders. Ich weiß selbst nicht, wie er es angestellt hat, jedenfalls sah
ich
mich plötzlich für meine Entscheidung unter einem Rechtfertigungszwang, und nicht etwa andersherum. Und je mehr ich ihm erklärte, dass es nicht unfair sei, desto mehr verengten sich seine Augen. Er hatte einen Blick an sich, Sie wissen schon, der hätte töten können. Er schaffte mit den Augen, wozu andere die Fäuste brauchen. Man wusste einfach, dass man nicht das Zielobjekt eines solchen Blickes sein wollte. Er sprach niemals Drohungen aus, auch nicht indirekt, er tat eigentlich gar nichts. Aber ich wusste die ganze Zeit, in der wir redeten, sehr genau, wie sein Besuch zu verstehen war. Als Warnung.«
»Und es hat Wirkung gezeigt.«
»Hat mir ein paar schlaflose Nächte bereitet. Meine Frau hat mich immer wieder gefragt, was los sei, und ich musste ihr antworten, nichts, obwohl ich wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Ich hatte das Gefühl, vor etwas wirklich Beängstigendem auszuweichen.«
»Aber er hat nie etwas gemacht?«
»Na ja, er hat mich eines Tages, als sich unsere Wege kreuzten, wissen lassen, er hätte zufällig gerade herausgefunden, wo ich wohne.«
»Und?«
»Das war’s. Das reichte.«
»Wie das?«
»Ich habe mich über beinah jede Regel hinweggesetzt, an die ich mich sonst halte. Völliges moralisches Versagen meinerseits. Ich habe ihn nach dem Unterricht zu mir bestellt, habe ihm erklärt, ich hätte mich geirrt, er hätte hundertprozentig recht, und habe ihm für die Hausarbeit und auch gleich für das ganze Semester eine Eins gegeben.«
Ich sagte nichts.
»Also«, fragte Professor Corcoran, während er seine Sachen zusammenklaubte, »wen hat er umgebracht?«
10
Ein schlechter Start
Hope war in der Küche und probierte ein neues Rezept aus, während sie darauf wartete, dass Sally nach Hause kam. Sie probierte die Soße, verbrannte sich die Zunge und fluchte leise. Es schmeckte nicht richtig, und sie fürchtete, dass es auf ein verdorbenes Abendessen hinauslief. Für einen Moment fühlte sie sich viel hilfloser, als es ein missratenes Kochexperiment rechtfertigte, und sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Sie wusste nicht recht, wieso sie und Sally eine so schwierige Phase durchmachten.
Oberflächlich betrachtet gab es eigentlich keinen Grund für ihre gedehnten Gesprächspausen und frostigen Momente. Weder in Sallys Anwaltspraxis noch an Hopes Schule gab es besorgniserregende Probleme. Finanziell ging es ihnen sogar recht gut, und sie verfügten über die Mittel für exotische Urlaubsreisen, einen neuen Wagen oder sogar eine neue Einbauküche, falls ihnen danach war. Doch jedes Mal, wenn das Gespräch auf eines dieser luxuriösen Vorhaben kam, wurde es beiseite gewischt. Logische Begründungen, weshalb sie weder das eine noch das andere tun sollten, wurden nachgeliefert. Hope stellte fest, dass jedes Hindernis, das ein mögliches Abenteuer zunichte machte, von Sally aufgerichtet wurde, und das bekümmerte sie zutiefst.
Sie hatte das Gefühl, dass es lange her war, seit sie etwas miteinander geteilt hatten.
Selbst ihr früher einmal von Zärtlichkeit und Hingabe geprägtes Liebesleben war in letzter Zeit deutlich abgekühlt und mechanisch, routinemäßig geworden, was ihr zu schaffen machte. Außerdem hatten sie weitaus seltener Sex.
Die erkaltete Leidenschaft legte den Gedanken nahe, dass Sally bei jemand anderem Zuneigung suchte. Einerseits war die Vorstellung, Sally könnte eine Affäre haben, vollkommen lächerlich,
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