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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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andererseits wiederum logisch. Hope biss die Zähne zusammen und warnte sich davor, das Desaster herbeizureden. Außerdem würde sie ein solcher Verdacht nur noch nervöser machen. Sie hasste es, mit Zweifeln zu leben. Das passte nicht zu ihr, und es wäre ein Fehler gewesen, solchen Befürchtungen nachzugeben.
    Sie sah auf die Uhr an der Wand und hatte auf einmal den Drang, den Herd auszuschalten und sich die Laufschuhe zu schnappen, um ausgiebig und schnell zu joggen. Es war noch nicht ganz dunkel, und sie dachte, dass trotz ihrer Erschöpfung vom Schultag und vom Fußballtraining ein paar Kilometer Sprint nicht schaden konnten. In ihrer Zeit als aktive Spielerin hatte sie auf eines immer zählen können: dass sie gegen Ende einer Begegnung mehr Energie übrig hatte als ihre Gegnerinnen. Sie war nie sicher gewesen, ob das an ihrer besseren Kondition lag, wie ihre Trainer annahmen. Sie glaubte eher, dass es mit einer emotionalen Fähigkeit zusammenhing, einer besonderen Triebkraft, so dass sie noch auf Kraftreserven zurückgreifen konnte, wenn andere schon schlappmachten; so dass sie noch schnell laufen konnte, wenn andere schon keuchten, als könnte sie die totale Erschöpfung auf die Zeit nach dem Spiel schieben.
    Sie machte die Herdplatten aus und lief, zwei Stufen auf einmalnehmend, nach oben. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, sich auszuziehen und in Shorts sowie ein altes Manchester-United-Sweatshirt zu schlüpfen. Sie wollte aus dem Haus sein, wenn Sally zurückkam, und keine langen Erklärungen dafür abgeben, wieso sie dem dringenden Bedürfnis folgte zu joggen, statt wie gewöhnlich um diese Zeit das Abendessen zu machen.
    Nameless stand unten an der Treppe und wedelte mit gedämpftem Enthusiasmus. Er erkannte das Jogging-Outfit und wusste, dass er dazu nur noch selten mitgenommen wurde. Früher einmal wäre er augenblicklich an ihrer Seite gewesen und hätte sie begeistert angesprungen, doch inzwischen gab er sich damit zufrieden, sie bis zur Tür zu begleiten, sich dann hinzulegen und auf sie zu warten, was der Hund, wie Hope vermutete, zu seinen Pflichten zählte.
    Hope war stehengeblieben, um ihm den Kopf zu kraulen, als das Telefon klingelte.
    Am liebsten wäre sie in diesem Moment all den Problemen, die sie bewegten, einfach davongerannt, und wenn auch nur für eine Weile. Sie nahm an, dass es Sally war, die ihr sagen wollte, dass es bei ihr später werden würde. Sie rief eigentlich nie mehr an, um ihr zu sagen, dass sie früher käme. Hope wollte das nicht hören, und so war ihr erster Impuls, das Telefon klingeln zu lassen.
    Es läutete wieder.
    Sie ging zur Tür und machte sie auf. Doch dann drehte sie sich um und war mit wenigen Sätzen in der Küche, um den Anruf entgegenzunehmen.
    »Hallo«, sagte sie kurz angebunden, nüchtern.
    »Hope?«
    In dieser Sekunde erkannte Hope nicht nur Ashleys Stimme, sondern auch, dass sie in größter Bedrängnis schien.
    »Hallo, Killer«, meldete sie sich mit Ashleys Spitznamen, den nur sie beide verwendeten. »Stimmt was nicht?« Sie legte eine Beschwingtheit in ihren Ton, der nicht nur ihrer eigenen Situation widersprach, sondern auch dem Druck, den sie plötzlich im Magen spürte.
    »Ach, Hope«, brachte Ashley heraus, und Hope hörte deutlich heraus, dass sie geweint haben musste. »Ich glaube, ich habe ein Problem.«
     
    Sally hörte im Autoradio den auf alternativen Rock spezialisierten Lokalsender, als der verstorbene Warren Zevon mit
Poor, Poor Pitiful Me
ertönte. Aus irgendeinem ihr selbst nicht ersichtlichen Grund konnte sie nicht anders, als rechts heranzufahren, zuzuhören und mit den Fingern den Rhythmus zu trommeln.
    Während die Musik ihren Kleinwagen durchflutete, streckte sie die Hände vor sich aus.
    Die Adern bildeten auf ihren Handrücken ein bläulich schimmerndes Netz wie die Interstate-Autobahnen auf dem Atlas. Ihre Finger waren etwas steif, vielleicht der erste Anflug von Arthritis.
    Sie rieb sie aneinander, um etwas von der Geschmeidigkeit heraufzubeschwören, die sie einmal besessen hatten. Als sie jünger war, hatte sie einiges an ihrem Äußeren schön gefunden: ihre Haut, ihre Augen, ihre Körperformen. Am stolzesten war sie jedoch auf ihre Hände gewesen – die Musik steckte ihr buchstäblich in den Fingerspitzen. In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie Cello gespielt und ernsthaft überlegt, an den Musikhochschulen Julliard und Berklee vorzuspielen, sich im letzten Moment jedoch für eine weniger ausgefallene Laufbahn

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