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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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entschieden, die schließlich auf einen Ehemann, eine Tochter, eine Affäre mit einer anderen Frau, eine Scheidung,einen Juraabschluss und ihre derzeitige Anwaltspraxis in ihrem derzeitigen Leben hinauslief.
    Sie spielte ihr Instrument nicht mehr. Sie konnte ihm nicht mehr dieselben reinen und subtilen Klänge entlocken wie früher einmal, und sie hatte keine Lust, sich ihre Fehler anzuhören. Sally ertrug es nicht, ungeschickt zu sein.
    Während sie im Auto saß, verlor der Song allmählich an Schwung, und Sally erhaschte im äußersten Winkel ihres Rückspiegels einen Blick auf ihre Augen. Sie richtete den Spiegel aus, um ihr Gesicht ganz zu sehen. In weniger als einem Jahr würde sie fünfzig, ein Alter, das manche als einen Meilenstein betrachteten, das sie jedoch innerlich fürchtete. Sie hasste es, wie schlaff ihr Kinn und ihr Hintern geworden waren. Ohne Hope davon zu erzählen, war sie Mitglied in einem örtlichen Fitness-Club geworden und strampelte sich, sooft es ihre Zeit erlaubte, auf dem Laufband und dem Ellipsentrainer ab.
    Sie las Werbung für kosmetische Chirurgie und hatte sogar schon ernsthaft darüber nachgedacht, sich unter dem Deckmantel einer Geschäftsreise heimlich in eine dieser luxuriösen Schönheitsfarmen abzusetzen. Sie war sich nicht sicher, weshalb sie diese Dinge vor ihrer Lebensgefährtin verbarg, war jedoch klug genug, zu erkennen, dass die Tatsache an sich schon Bände sprach.
    Sally holte tief Luft und stellte das Radio ab.
    Einen Moment lang kam ihr der Gedanke, dass ihr die ganze Jugend gestohlen worden war. Sie hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge, als ihr ins Bewusstsein drang, dass alles in ihrem Leben vorhersehbar, unverrückbar wie in Stein gemeißelt war. Selbst ihre Lebenspartnerschaft, die in einigen Landesteilen Tratsch hinter vorgehaltener Hand über Gartenzäune hinweg provoziert und als exotisch und gefährlich gegolten hätte, war im westlichen Massachusetts so langweiligeRoutine wie das Kommen und Gehen der Jahreszeiten. Sie war nicht einmal ein sexueller Renegat.
    Sally packte das Lenkrad und stieß einen kurzen, wütenden Schrei aus. Nicht schrill – eher ein dumpfes Aufbrüllen wie vor Schmerz. Sie sah sich hastig um und vergewisserte sich, dass kein Passant sie hatte hören können.
    Mit keuchendem Atem legte sie den Gang ein.
    Was kommt als Nächstes?, fragte sie sich, während ihr durchaus bewusst war, dass sie wieder einmal zu spät zum Abendessen kam. Irgendeine Krankheit? Vielleicht Brustkrebs oder Osteoporose oder Anämie. Egal, was, so konnte es sie kaum schwerer treffen als diese unkontrollierbare, ohnmächtige Wut und Frustration, die sie umtrieb und der sie nichts entgegenzusetzen hatte.
     

     
    »Die beiden Frauen steckten also in einer Krise?«
    »Ja, ich denke, das könnte man so sagen. Doch das trifft nicht einmal ansatzweise den Moment, als Michael O’Connell sich in ihrer beider Leben drängte, als seine bloße Präsenz die ganze Situation in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ.«
    »Verstehe«, sagte ich.
    »Wirklich? Klingt mir eigentlich nicht danach«, erwiderte sie.
    Wir saßen in einem kleinen Restaurant nicht weit von der Straßenfront, so dass sie durch die Spiegelglasfenster auf die Hauptstraße der kleinen College-Stadt blicken konnte, in der wir zu Hause waren. Sie lächelte einen Moment und wandte den Kopf wieder in meine Richtung.
    »In unserer gehobenen Mittelschicht, in der wir es uns so behaglich eingerichtet haben, nehmen wir vieles als selbstverständlich, nicht wahr?« Sie wartete keine Antwort von mir ab, sondern fuhrfort. »Die Probleme tauchen nicht nur dann auf, wenn wir am wenigsten damit rechnen, sondern auch in Situationen, wenn wir am wenigsten dafür gewappnet sind«, erklärte sie, und zwar in einem etwas gereizten, pointierten Ton, der nicht ganz zu diesem schönen, trägen Nachmittag passen wollte.
    »Zugegeben«, seufzte ich. »Scotts Leben mag nicht eben perfekt gewesen sein, aber alles in allem war es gar nicht so schlecht. Er hatte eine gute berufliche Stellung, ein gewisses Prestige, ein mehr als angemessenes Einkommen, was ihn zumindest teilweise über seine Einsamkeit in der Lebensmitte hinweggetröstet haben dürfte. Susan und Hope steckten zwar gerade in einer Krise, aber auch sie verfügten über Mittel, über beträchtliche Mittel. Und ebenso befand sich Ashley trotz ihrer soliden Bildung und ihrer Attraktivität in einer Phase des Umbruchs. So ist das Leben nun mal, nicht wahr? Was

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