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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Spätnachmittags.
    Sie war in einem seltsamen Zustand, in dem ihr eine Menge Dinge durch den Kopf gingen, ohne dass sie sich auf eines konzentrierte. Es klopfte, und sie wirbelte herum. Eine Kanzleiangestellte stand, einen weißen Briefumschlag in der Hand, verlegen in der Tür.
    »Sally«, sagte die Assistentin, »das kam gerade per Eilboten für Sie. Vielleicht ist es was Wichtiges …«
    Sally erwartete keine vorbereitenden Schriftsätze oder andere Dokumente, die so dringlich gewesen wären, doch sie nickte und fragte: »Von wem kommt der?«
    »Von der bundesstaatlichen Anwaltskammer«, erwiderte die Assistentin.
    Sally nahm den Umschlag entgegen und betrachtete ihn verwundert von allen Seiten. Sie konnte sich nicht entsinnen, abgesehen von Beitragserhebungen und Einladungen zu irgendwelchen Dinnerpartys oder Vorträgen, zu denen sie nie gegangen war, jemals Post von der Kammer erhalten zu haben. Jedenfalls waren sie nie per Eilzustellung und Einschreiben mit Rückschein gekommen.
    Sie riss den Umschlag auf und zog einen einseitigen Brief heraus. Er war an sie gerichtet, unterschrieben vom Vorsitzenden der Anwaltskammer, einem Mann, den sie nur vom Hörensagen kannte, ein prominenter Angehöriger einer führenden Kanzlei in Boston, der in Kreisen der Demokratischen Partei verkehrte sowie regelmäßig in Fernseh-Talkshows auftrat und in den Gesellschaftsnachrichten auftauchte. Er spielte, so viel wusste Sally, in einer ganz anderen Liga als sie.
    Sie las den kurzen Brief sorgfältig durch. Jede Sekunde, die währenddessen verging, schien den Raum zu verdunkeln.
Sehr geehrte Ms. Freeman-Richards,
    hiermit setze ich Sie über eine Beschwerde in Kenntnis, die bei der Anwaltskanzlei hinsichtlich Ihres Umgangs mit Klientenkonten in dem laufenden Verfahren Johnson ./. Johnson, verhandelt vor Richter V. Martinson, am Berufungsgericht, Abteilung Familienrecht, eingegangen ist. Dieser Beschwerde zufolge wurden mit diesem Verfahren in Verbindung stehende Gelder auf ein unter Ihrem Namen geführtes Privatkonto transferiert. Ein solcher Vorgang verstößt gegen M. G. L. 302, Absatz 43 und stellt überdies einen schweren Verstoß gegen das Strafrecht gemäß U. S. S., Absatz 11 dar
.
    Wir weisen Sie darauf hin, dass die Anwaltskammer binnen einer Woche Ihre eidliche Erklärung zur Erhellung der Angelegenheit benötigt und sich andernfalls gezwungen sehen wird, die Sache an die Staatsanwaltschaft von Hampshire County sowie die Bundesstaatsanwaltschaft für den westlichen Verwaltungsdistrikt von Massachusetts für Strafverfolgung weiterzuleiten
.
    Sally hatte das Gefühl, dass ihr jedes Wort des Briefs im Halse steckenblieb, als hätte sie ein Stück Fleisch in die Luftröhre bekommen. »Unmöglich«, rief sie laut. »Absolut scheißunmöglich!«
    Der Kraftausdruck hallte von den Wänden wider. Sally holte tief Luft und wirbelte zu ihrem Computer herum. Hastig tippte sie die Daten zu dem in dem Schreiben der Anwaltskammer genannten Scheidungsverfahren ein. Johnson gegen Johnson gehörte in jeder Hinsicht zu ihren unkomplizierteren Fällen, auch wenn er unter einer starken Animosität zwischen der Ehefrau, ihrer Klientin, und dem getrennt lebenden Ehemann litt. Der Mann war Augenchirurg in dieser Stadt, Vater derbeiden minderjährigen, ehelichen Kinder, ein gewohnheitsmäßiger Betrüger, den Sally dabei erwischt hatte, als er versuchte, gemeinsame Vermögenswerte auf ein Konto auf den Bahamas zu verschieben. Er hatte sich dabei so dumm angestellt, dass er zuerst größere Barbeträge von ihrem gemeinsamen Broker-Konto abgehoben und anschließend Flugtickets mit seiner Visa-Karte bezahlt hatte, um sich die Meilen gutschreiben zu lassen. Sally hatte einen Gerichtsbeschluss erwirkt, wonach die entsprechenden Vermögenswerte beschlagnahmt und bis zur rechtskräftigen Scheidung auf ein Anderkonto ihrer Klientin transferiert würden. Mit der Scheidung war kurz nach Weihnachten zu rechnen. Nach ihrer Schätzung sollten auf dem Konto etwas über vierhunderttausend Dollar liegen.
    Das traf aber nicht zu.
    Sie starrte auf den Monitor und sah, dass es weniger als die Hälfte war.
    »Das kann nicht sein«, sagte sie laut.
    So nah an der Panik wie noch nie in ihrem Leben machte sich Sally daran, jede Bewegung auf diesem Konto im Einzelnen durchzugehen. In den letzten Tagen war über eine Viertelmillion Dollar auf elektronischem Wege von diesem Konto abgezweigt und auf fast ein Dutzend andere Konten überwiesen worden. Auf diese anderen

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