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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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›alternativen Lifestyle‹ pflegte, einen Ausdruck, den Hope hasste, da er ganz und gar unromantisch war.
    »Ah, Hope, ja, ja, ja, kommen Sie herein.«
    Dekan Mitchell befleißigte sich der Sprache eines Antiquars, mit einem wunderlichen Sinn für Präzision. Slang oder Kurzformen kamen ihm nicht über die Lippen. Er war dafür berüchtigt, Referate mit Sätzen zu kommentieren wie: Ich verzweifle oft an der intellektuellen Zukunft der menschlichen Spezies. Er deutete auf einen großen Ohrensessel aus rotem Leder, der ihm gegenüber am Schreibtisch stand. Es war ein Sitzmöbel, in dem man versank, so dass Hope sich lächerlich klein vorkam.
    »Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, begann Hope. »Womit kann ich dienen, Stephen?«
    Dekan Mitchell fuchtelte einen Moment mit den Händen, drehte sich dann zum Fenster um, als koste es ihn Überwindung, etwas zu sagen. Doch lange ließ er sie nicht warten.
    »Hope, ich glaube, wir haben ein ernstes Problem.«
    »Ein Problem?«
    »Ja. Jemand hat einen schweren Vorwurf gegen Sie erhoben.«
    »Einen Vorwurf? Was denn?«
    Der Dekan zögerte, als fühlte er sich schon jetzt von dem, was er zu sagen hatte, zutiefst beleidigt. Er fuhr sich mit der Hand durch das dünne graue Haar und rückte die Brille zurecht, bevor er in einem herzerweichenden Ton, so als hätte er jemandem den Tod eines nahen Angehörigen mitzuteilen, sagte: »Die Beschwerde fällt wohl in die Rubrik sexuelle Belästigung.«
     
    Fast genau zur selben Zeit, als Hope Dekan Mitchell gegenübersaß und die Worte hörte, die sie ihr ganzes Berufsleben hindurch gefürchtet hatte, schloss Scott eine Sprechstunde mit einem Studenten höheren Semesters ab, der sein Seminar »Texte zum amerikanischen Freiheitskrieg« besuchte. Der junge Mann tat sich schwer. »Finden Sie nicht, dass Washingtons Worte sehr mit Bedacht gewählt sind?«, fragte Scott. »Zugleich aber auch seine Entschlossenheit zum Ausdruck bringen?«
    Der Student nickte. »Es erscheint mir trotzdem zu abstrakt«, zögerte er, »um daraus seine Motive, die Gunst der Stunde abzuleiten. All das, wofür Washington diesen sicheren Instinkt besessen haben soll.«
    Scott lächelte. »Wissen Sie was? Es soll heute Abend einen richtigen Temperatursturz geben. Wahrscheinlich unter den Gefrierpunkt. Vielleicht gibt es ein Schneegestöber. Wie wär’s, wenn Sie ein paar von Washingtons Briefen mit nach draußennehmen würden, um sie beim Licht einer Taschenlampe zu lesen, oder noch besser, einer Kerze? Am besten so um Mitternacht, im Innenhof des Campus. Schauen Sie mal, ob Sie ihnen dann mehr abgewinnen können.«
    Der Student grinste. »Im Ernst? Draußen im Dunkeln?«
    »Unbedingt«, erwiderte Scott. »Und fangen Sie sich keine Lungenentzündung ein, Sie dürfen nämlich nur eine einzige Wolldecke mitnehmen, um sich warm zu halten, und Sie müssen Schuhe mit Löchern in den Sohlen tragen, dann können wir unsere Diskussion, sagen wir, Mitte der Woche fortsetzen. Einverstanden?«
    Auf seinem Schreibtisch klingelte das Telefon, und er nahm ab, als der Student gerade zur Tür hinaus verschwand. »Ja?«, meldete er sich. »Scott Freeman.«
    »Scott, William Burris von der Yale …«
    »Hallo, Professor, das ist eine Überraschung …«
    Scott saß plötzlich kerzengerade. Wenn man amerikanische Geschichte unterrichtete, war ein Anruf von William Burris so etwas wie eine Stimme aus dem Himmel. Der Mann war Pulitzer-Preisträger, Bestsellerautor, bekleidete eine äußerst großzügig ausgestattete Professur an einer der führenden Universitäten, fungierte gelegentlich auch als Ratgeber von Präsidenten und anderen Staatsoberhäuptern – ein Wissenschaftler von untadeligem Ruf, mit einem Hang zu Savile-Row-Anzügen für zweitausend Dollar das Stück, die er sich maßschneidern ließ, wenn er gerade mal in Oxford, Cambridge oder an sonst einem Institut dozierte, das sich seine sechsstelligen Honorare leisten konnte.
    »Ja, ist eine Weile her, nicht wahr? Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Bei irgendeiner Society-Konferenz, nehme ich an?«
    Damit war eine der vielen historischen Gesellschaften gemeint,bei denen Scott Mitglied war und die alles daransetzten, Burris auf die Rednerliste zu bekommen. »Ich denke, es ist ein paar Jahre her. Wie geht es Ihnen, Professor?«
    »Bestens, bestens«, antwortete er. Scott sah ihn vor sich, grauhaarig und imposant, in einem Büro wie seinem eigenen, nur beträchtlich größer, mit einer Sekretärin, die Anrufe von Agenten,

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