Das Opfer
angerichtet hatte. Sie war wütend auf sich, wenn sie daran dachte, dass sie kein schwierigeres Passwort gewählt hatte. Es ging bei dem Fall umeine Scheidung, und so war sie auf »Scheidrecht« verfallen. Sie hatte sich mit den für die Kontensicherheit zuständigen Kundendiensten der diversen Banken in Verbindung gesetzt, die Zahlungen aus dem vermeintlich unantastbaren Klientenkonto empfangen hatten, und so war es ihr gelungen, den größten Teil der abgezweigten Gelder zurückzuholen oder wenigstens einfrieren zu lassen, so dass niemand Zugriff darauf hatte. Die Banken hatten außerdem zugesagt, bei einem Teil der Summen elektronische Fangstellen einzurichten, mit deren Hilfe jeder, der elektronisch oder persönlich versuchte, etwas davon abzuheben, zurückverfolgt werden konnte. Doch nicht überall war sie erfolgreich. Mehrere Transaktionen hatten eine schwin delerregende Folge von Ein- und Auszahlungen durchlaufen, bis sie am Ende auf einem Konto einer Offshore-Bank ver schwanden, zu dem sie nicht durchdringen konnte. Hier stieß sie bei ihren Anrufen mit ihrer Geschichte vom Datenraub auf weniger verständnisvolle Ohren als gehofft.
Ihr spontaner Impuls war, sich einen Anwalt zu nehmen, doch dann rückte sie wieder davon ab, fürs Erste. Stattdessen schöpfte sie das Kreditlimit auf ihr Eigenkapital an ihrem und Hopes Haus aus und beglich damit das Defizit auf dem Klientenkonto, während sie gleichzeitig sich und ihre ahnungslose Lebensgefährtin in beträchtliche Schulden stürzte. Es würde Monate dauern, dachte sie, bis sie so viel verdient hatte, dass der finanzielle Schaden wiedergutgemacht war, doch zumindest war sie, so hoffte sie, zuerst einmal vor Schlimmerem bewahrt.
Mit größter Sorgfalt setzte sie den Brief an die Anwaltskammer auf. Sie beschrieb darin einige der Transaktionen und erklärte, dass sie von einem Dritten vorgenommen worden seien. Sie habe jedoch aus eigenen Mitteln das Klientenkonto wieder aufgefüllt und in Absprache mit der Bank vor jedem weiterenunberechtigten elektronischen Zugriff geschützt. Sie hoffe, mit diesem Brief einem Eingreifen der Staatsanwaltschaft oder einer strafrechtlichen Verfolgung zuvorgekommen zu sein, zumindest bis sie festgestellt habe, wer ihr diesen Schaden zugefügt habe. Sie dachte daran, Auskunft darüber zu verlangen, wer die Beschwerde bei der Anwaltskammer eingereicht hatte, doch sie wusste, dass man ihr nicht verraten würde, in welcher Form diese dort eingegangen war, bis man entschieden hatte, ob die Sache weiterverfolgt werden würde oder nicht. Ergo musste sie wohl eine Zeitlang mit der Ungewissheit leben.
Sally hatte sich nie für eine eiskalte Anwältin gehalten. Ihre größte Stärke lag darin, zwischen den gegnerischen Seiten Kompromisse auszuhandeln. Sie hasste den Moment, wenn die Chance, einen Vergleich zu erzielen, nicht mehr gegeben war.
Doch als sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl herumdrehte und auf den Stapel mit Ausdrucken von Transaktionen starrte, mit denen ihr Tisch übersät war, empfand sie nichts als Verzweiflung. Wer ihr das angetan hatte, der musste sie wahrlich hassen.
Dies warf eine Frage auf, der sie sich nur ungern stellte, denn niemand schafft es, eine rentable Anwaltskanzlei zu führen, noch dazu mit Schwerpunkt auf Scheidungs- und Sorgerechtsfälle sowie auf Kleinkriminalität, ohne sich Feinde zu machen. Die meisten plustern sich nur auf. Wenige gehen darüber hinaus.
Aber wer?, fragte sie sich.
Es war etliche Monate her, seit ihr jemand wütend gedroht hatte, zumindest auf ernstzunehmende Weise. Bei der Vorstellung, dass da draußen jemand herumlief und seinen Angriff geduldig und sorgfältig plante, biss sie sich auf die Lippen.
Sally lehnte sich zurück, drehte sich auf ihrem Stuhl im Kreisund machte sich klar, dass sie Hope erzählen musste, was geschehen war. Sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Zwischen ihnen hatte sich so viel Spannung angesammelt, und jetzt standen sie mit einem Schlag unter erheblichem finanziellem Druck.
Natürlich kam sie auf den Gedanken, zur Polizei zu gehen, da immerhin ein Diebstahl stattgefunden hatte.
Doch wie bei vielen Anwälten ging ihr das gegen den Strich. Und bis sie mehr wusste, bis sie herausbekommen hatte, wer das getan hatte und weshalb, war ihr nicht danach, dass ein polizeilicher Ermittler seine Nase in ihre Klientenakten steckte.
Geh der Sache auf den Grund, sagte sie sich. Bring das selbst in Ordnung.
Sally schnappte ihre Aktentasche, stopfte so
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