Das Opfer
Eins müssen Sie über die Psyche eines Menschen wie O’Connell wissen. Es geht um Besitz.«
»Ja«, stimmte ich zu, »das leuchtet ein. Aber was bekam er? Es ging nicht um Geld. Es ging nicht um sexuelle Begierde. Um Leidenschaft. Und trotzdem habe ich, nach allem, was ich bis jetzt weiß, das Gefühl, als ob dies alles zusammen durchaus eine Rolle spielte …«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und beugte sich dann abrupt zu mir vor.
»Sie nehmen die Dinge zu wörtlich«, erklärte er. »Ein Banküberfall sagt etwas Konkretes aus. Vielleicht gilt das sogar für einen Drogen-Deal oder dafür, dass man den Verkäufer, der im Laden um die Ecke Nachtschicht schiebt, einfach so erschießt. Für Serienmorde und -vergewaltigungen. Solche Verbrechen sind weitaus leichter einzuordnen. Dieses nicht. Michael O’Connells vermeintliche Liebe war ein Verbrechen, das um die Frage der Identität kreiste. Auf diese Weise nahm es überhand, bekam es ganz andere Dimensionen. Nahm es verheerende Ausmaße an.«
Ich nickte. Ich wollte gerade etwas fragen, doch er fuchtelte erneut mit der Hand herum, so dass ich verstummte.
»Noch etwas, das Sie stets im Auge behalten müssen«, sagte er mit einem gewissen Zögern. »Sie müssen auch verstehen, dass Michael O’Connell …«, er brauchte einen Moment, um tief einzuatmen, bevor er weitersprach, »… gnadenlos war.«
17
Eine aus den Fugen geratene Welt
Zum ersten Mal in ihrem relativ kurzen Leben hatte Ashley nicht nur das Gefühl, ihre Welt sei unglaublich klein, sondern nunmehr auch mit so wenigen Fixpunkten versehen, dass sie nirgendwo Zuflucht bot, kein sicheres Versteck, um Luft zu holen und zur Ruhe zu kommen.
Die kleinen Irritationen, die Zeichen dafür, dass sie beschattet und beobachtet wurde, kehrten regelmäßig wieder. Ihr Telefon war zu einer Waffe gegen sie geworden – am anderen Ende Schweigen oder schweres Atmen. Sie traute ihrem Computer nicht mehr. Sie weigerte sich, ihre E-Mail zu öffnen, da sie nicht mehr sagen konnte, von wem sie tatsächlich kam.
Sie erklärte ihrem Vermieter, sie habe ihre Wohnungsschlüssel verloren, und er ließ einen Schlosser kommen, um das Schloss an ihrer Tür zu ersetzen. Aber sie bezweifelte, dass es viel brachte. Der Handwerker meinte, es würde die meisten Leute draußen halten, allerdings nicht jemanden, der wusste, was er tat. Sie brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass O’Connell zur Sorte derer gehörte, die wussten, was sie taten. Bei ihrer Arbeitsstelle im Museum beklagten sich Kollegen darüber, dass sie anonyme Anrufe und irritierende E-Mails erhielten, die suggerierten, Ashley arbeite hinter ihrem Rücken an einem Projekt oder redete gegenüber der Verwaltungschlecht über sie. Wenn Ashley zu erklären versuchte, dass das alles nicht stimmte, hatte sie nicht das Gefühl, als würde man ihr viel Glauben schenken.
Aus heiterem Himmel beschuldigte sie eines Morgens ein homosexueller Kollege, sie sei eine verkappte Schwulenhasserin. Der Vorwurf war derart lächerlich, dass Ashley wie vor den Kopf geschlagen war und nicht wusste, was sie sagen sollte. Ein, zwei Tage später beäugte eine schwarze Kollegin sie argwöhnisch und weigerte sich, mit ihr zu essen. Als Ashley fragte, was passiert sei, erklärte die Frau brüsk: »Wir haben absolut nichts zu besprechen. Lass mich in Ruhe.«
Nach ihrem abendlichen Graduiertenseminar über moderne europäische Impressionisten zitierte ihre Professorin sie zu sich und eröffnete ihr, dass sie Gefahr lief, durchzufallen, wenn sie nicht endlich regelmäßig käme.
Ashley war schockiert. Sie machte den Mund auf und starrte die Frau an, die kaum von ihrem Wust an Papieren, Dias und großen Hochglanzkunstbänden aufsah, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Ashley versuchte, sich umzusehen, sich an irgendetwas festzuklammern, damit das Schwindelgefühl verging, das sie zu überwältigen drohte.
»Aber das ist unmöglich …«, brachte Ashley heraus. »Ich habe kein einziges Mal gefehlt. Ich müsste genau in der Mitte auf sämtlichen Anwesenheitslisten stehen.«
»Bitte belügen Sie mich nicht«, erwiderte die Professorin steif.
»Aber ich bin doch nicht …«
»Die Listen werden von einem der Assistenten durchgesehen und dann ins Computersystem des Seminars eingespeist«, erklärte die Professorin kalt. »Bei den wöchentlichen Vorlesungen und den zusätzlichen Diavorträgen, von denen wir bislang über zwanzig hatten, können wir Ihren Namen nur
Weitere Kostenlose Bücher