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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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viele Papiere wie möglich hinein und stand mit einem Ruck auf. Sie war in wenigen Schritten an der Tür und riss im Vorbeigehen den Mantel vom Haken. Außer ihr war niemand mehr im Büro, und so schloss sie ab, bevor sie eilig die Treppe hinunterlief und auf die Straße trat. Einen Augenblick lang brachte sie die kalte Luft durcheinander, und sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, weil ihr plötzlich schwindelig war. In dieser Sekunde konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wo sie den Wagen geparkt hatte. Alles drehte sich, und sie schnappte wie in einer Panikattacke nach Luft. Sie ballte die Fäuste und fühlte einen schmerzhaften Stich. Ihr Herz raste, die Schläfen pochten, und sie tastete nach einer Mauer in ihrer Nähe, um sich festzuhalten.
    Sally befahl sich mit aller Macht, den Überblick zu bewahren und systematisch vorzugehen. Ja nicht die Kontrolle verlieren, schärfte sie sich ein.
    Ihr Wagen stand wie immer im Parkhaus. Sie knöpfte den Mantel zu und zwang sich, normal zu atmen. Sie merkte, wieder Druck in ihrer Brust und in der Magengrube nachließ. Doch kaum waren ihre Körperreaktionen wieder unter Kontrolle, hatte sie plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Sie wirbelte herum, doch der Bürgersteig war abgesehen von den wenigen Studenten, die ein nahe gelegenes Café frequentierten, menschenleer. Der Verkehr auf der Hauptstraße bewegte sich normal. An einem Bus zischten die Druckluftbremsen, als er vor dem alten Theater in die Haltestelle einschwenkte und stehenblieb. Alles war wie immer. Alles ging, stellte Sally fest, seinen gewohnten Gang.
    So schien es jedenfalls.
    Sie holte noch einmal tief Luft und schritt in normalem Tempo Richtung Parkhaus. Ein Teil von ihr wollte losrennen, und sie konnte nur knapp ihren Drang beherrschen, in einen Laufschritt zu verfallen, als die abendliche Dunkelheit sich über sie legte. Bald boten nur noch das fahle Licht der Straßenlaternen und die beleuchteten Schaufenster kleine Zufluchtstätten gegen den Einbruch der Nacht.
     

     
    »Wissen Sie, selbst wenn ich von meiner Schweigepflicht entbunden bin, mit Unterschrift und allem Drum und Dran, so ist mir doch nicht wohl dabei, über Dinge zu sprechen, die mir vertraulich mitgeteilt wurden.«
    »Das ist Ihr gutes Recht«, versicherte ich mit falscher Großherzigkeit. »Ich kann Sie voll und ganz verstehen.« Mit diesen Worten versuchte ich, das genaue Gegenteil zu suggerieren.
    »Tatsächlich?«, fragte er.
    Der Psychologe war ein verschmitzter kleiner Herr mit graugesträhnten Locken, die ihm richtungslos um den Kragen sprossen, als hingen sie an krausen, widersprüchlichen Ideen unter seinerKopfhaut. Er trug eine Brille, wodurch er vage an ein Insekt erinnerte, und er hatte eine seltsame Eigenart. Er sprach einen Gedanken aus und wedelte dann mit der Hand in der Luft, um seine Worte zu unterstreichen.
    »Immerhin«, fuhr er fort, »bin ich nicht so sicher, ob die Wirkung, die Michael O’Connell auf diese Leute hatte, bis heute ganz verstanden wurde.«
    »Wie meinen Sie das?«
    Er seufzte. »Ich denke, Sie können sich das zum Beispiel wie einen Autounfall vorstellen, vielleicht von einem betrunkenen Fahrer verursacht. Ein Moment des Verlustes, der Angst, des Konflikts, wie auch immer man das sehen will. Doch die Nachwirkungen bleiben über Jahre, möglicherweise ein Leben lang. Darum geht es bei diesem Fall.«
    »Aber …«
    »Ich weiß einfach nicht, ob ich darüber sprechen kann«, erklärte er abrupt. »Ein paar Dinge, die in dieser Praxis gesagt werden, müssen vertraulich bleiben, auch wenn ich Ihre Absicht, die Geschichte niederzuschreiben, begrüße. Falls ich sie begrüße, hab’s eigentlich noch nicht richtig zu Ende gedacht. Und ganz sicher hasse ich es wie die Pest, wenn ich das eine oder andere ausplaudere, und am nächsten Tag flattert mir eine Vorladung ins Haus, und ich muss ein paar Columbo-Typen in schlecht sitzenden Anzügen reinlassen, die sich dümmer stellen, als sie sind. Nein danke.«
    Ich seufzte und wusste nicht recht, ob ich enttäuscht sein oder seine Haltung respektieren sollte. Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln und zuckte mit den Achseln.
    »Nun ja«, sagte ich, »damit meine Fahrt hierher nicht ganz umsonst gewesen ist, können Sie mir vielleicht wenigstens ein paar Dinge über O’Connells obsessive Liebe zu Ashley erklären …«
    Der Psychologe schnaubte und schien plötzlich aufgebracht. »Liebe.
Liebe!
Mein Gott, was hat das mit Liebe zu tun?

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