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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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ganze zwei Mal entdecken. Davon ist einmal heute Abend.«
    »Aber ich bin immer da gewesen«, sagte Ashley in flehentlichem Ton. »Ich versteh das nicht. Kann ich Ihnen bitte meine Notizen zeigen?«
    »Jeder kann jemand anderen bitten, für ihn mitzuschreiben oder hinterher abschreiben zu lassen …«
    »Aber ich war wirklich da. Ich schwör’s. Jemandem ist ein Fehler unterlaufen.«
    »Sicher. Jemandem. Ein Fehler. Aber klar doch, wir sind schuld …«, meinte die Professorin sarkastisch.
    »Also, ich glaube, dass jemand absichtlich meine Teilnahmenachweise sabotiert …«
    Die Professorin zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Das wäre das erste Mal. Wozu sollte das jemand machen?«
    »Ein Exfreund …«, stammelte Ashley.
    »Noch einmal, Miss Freeman, wozu sollte das dienen?«
    »Er will mich beherrschen …«
    Die Professorin war unschlüssig. »Können Sie diese Unterstellung beweisen?«
    Ashley holte langsam Luft. »Ich wüsste nicht, wie.«
    »Sie verstehen, dass ich Ihnen das nicht ohne weiteres abnehmen kann?«
    Ashley wollte etwas sagen, doch die Frau wehrte mit einer Handbewegung ab.
    »Ich habe gleich zu Beginn, in der ersten Vorlesung, gesagt, dass eine regelmäßige Teilnahme erforderlich ist. Ich bin kein herzloser Mensch, Miss Freeman. Wenn jemand eine Stunde verpasst, vielleicht sogar zwei, dann habe ich dafür Verständnis. Es kommt schon mal zu Terminüberschneidungen, unvorhergesehenen Schwierigkeiten. Aber es liegt in Ihrer Verantwortung, regelmäßig da zu sein und das Text- und Bildmate rial durchzuarbeiten. Ich glaube nicht, dass Sie dieses Seminar erfolgreichabschließen können. Ehrlich gesagt, bin ich nicht geneigt …«
    »Dann lassen Sie mich einen Test schreiben, eine Klausur, ein Referat. Etwas, das mir die Chance gibt, Ihnen zu beweisen, dass ich jede Vorlesung verstanden habe …«
    »Es gibt bei mir keine Freistellungen oder Sonderregelungen«, erklärte die Professorin kurz angebunden. »Dann müsste ich das für jeden Studenten tun, der wenig oder gar kein Engagement an den Tag legt und da sitzt, wo Sie jetzt sitzen, Miss Freeman, und mir ins Gesicht lügt, die unglaublichsten Entschuldigungen auftischt, vom Hund, der die Hausaufgabe gefressen hat, bis zur Großmutter, die plötzlich gestorben ist. Großmütter sterben in meinen Kursen mit deprimierender Regelmäßigkeit, und oft mehr als nur einmal. Also, kein P ardon, Miss Freeman. Kommen Sie von nun an regelmäßig. Schreiben Sie eine Eins bei der Abschlussklausur, falls Sie können, was ich bezweifle, denn das hat noch niemand geschafft, und vielleicht kann ich beide Augen zudrücken und Sie bestehen lassen. Das wird sich zeigen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, ob Sie das Fach wechseln wollen? Vielleicht ist Kunstgeschichte und ein Graduiertenkolleg nicht das Richtige für Sie.«
    »Kunst war schon immer …«
    Die Professorin hielt erneut die Hand hoch und unterbrach Ashley mitten im Satz. »Tatsächlich? Vielleicht liege ich ja falsch. Wie auch immer, viel Glück, Miss Freeman. Sie werden es brauchen.«
    Mit Glück, dachte Ashley, hat das Ganze nichts zu tun.
    Sie verließ das Büro der Professorin und trat in einen Flur, der von der Leere widerhallte. Aus dem Treppenhaus oder von einem anderen Stockwerk konnte sie Gelächter hören, wenn auch körperlos, beinahe gespenstisch. Sie stand wie erstarrt. Erwar da, er beobachtete sie. Langsam drehte sie sich im Kreis, als stünde er, wie ein Schatten, der ihr ständig folgt, immer gerade im blinden Fleck ihres Gesichtsfelds. Sie horchte auf einen Atemzug, ein Flüstern, irgendetwas Konkretes, dem sie entnehmen konnte, dass er wirklich da war, doch sie bemerkte nichts.
    Ashley stiegen langsam die Tränen in die Augen. Sie zweifelte nicht daran, dass O’Connell es irgendwie geschafft hatte, ihren Namen von den Anwesenheitslisten zu tilgen. Sie sackte gegen die Wand und atmete schwer. All die Stunden, die sie in den Seminaren zugebracht hatte, die ganze Aufmerksamkeit, die sie auf die Vorlesungen verwandte, die Notizen, die sie sich gemacht, die Fachkenntnisse, die sie sich angeeignet, und das Gespür für Form und Farbe, für die Stilrichtungen und die Ästhetik der Künstler, mit denen sich das Seminar beschäftigt hatte, schien sie sich nur eingebildet zu haben, oder es existierte in einem Paralleluniversum, in dem die Ashley, für die sie sich gehalten hatte, ihrem gewohnten Leben nachging und den einmal eingeschlagenen Weg beschritt.
    Er
bringt mich

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