Das Opfer
ausgestreckt, in der Stellung und rührte sich eine Minute lang nicht; dann noch einmal eine Minute. Er wusste, dass er sich nach etwa drei weiteren Minuten allmählich etwas unbehaglich und nach noch einmal zwei Minuten völlig erschöpft fühlen würde. Nach sechs hatte er akute Schmerzen.
O’Connell sagte sich, dass es längst nicht mehr darum ging, Muskeln aufzubauen.
Inzwischen ging es um Selbstüberwindung.
Er schloss die Augen und verdrängte das Brennen in seinem Bauch durch das Bild von Ashley in seiner Phantasie.
Langsam zeichnete er sämtliche Einzelheiten mit der ganzen Geduld eines Künstlers, der jede charakteristische Kurve, jeden verschatteten Winkel wiedergab. Fang mit ihren Füßen an, der Form ihrer gespreizten Zehen, dem Spann, ihrer straffenFerse. Dann langsam das Bein hoch, die Muskeln ihrer Wade, ihr Knie und ihren Oberschenkel.
Er biss die Zähne zusammen und lächelte. Normalerweise konnte er, nachdem er lange bei ihrem Unterleib verweilt war, seine Position bis über ihre Brüste hinaus halten und von dort bis hinauf zu der geschwungenen Kurve ihres langen, geschmeidigen Halses, bevor er sich gezwungen sah, die Hacken auf den Boden fallen zu lassen. Doch mit zunehmender Kraft würde er früher oder später auch noch ihre Gesichtszüge sowie ihre Haare nachzeichnen können. Er freute sich schon darauf, so stark zu sein.
Mit einem Keuchen entspannte er sich, und seine Füße prallten auf den harten Boden.
Sie wird anrufen, dachte er. Heute. Vielleicht morgen. Das war unausweichlich.
Er hatte Kräfte in Bewegung gesetzt, denen sie ausgeliefert war. Die Schlinge würde sich immer enger ziehen. Sie wird sich aufregen, sagte er sich. Sie wird wütend sein, fordernd, was ihm nicht das Geringste bedeutete. Was dagegen zählte, war die Tatsache, dass sie diesmal allein sein würde. Verzweifelt und verletzlich.
Er holte tief Luft. Einen Moment lang glaubte er, Ashley an seiner Seite zu fühlen, weich und warm. Er schloss die Augen und genoss eine Weile das Gefühl. Als es vorüber war, lächelte er.
Michael O’Connell legte sich auf den Rücken und starrte zur weißgetünchten Decke mit der nackten 110-Watt-Glühbirne. Er hatte einmal gelesen, dass in längst vergessenen Orden des elften und zwölften Jahrhunderts die Mönche trotz Hitze, Kälte, Hunger, Durst und Schmerzen stundenlang in dieser Position verweilten und halluzinierten, Visionen hatten, den unveränderlichen Himmel schauten und das unerbittlicheWort Gottes hörten. Das war für ihn hundertprozentig nachzuvollziehen.
Was Sally zu schaffen machte, war ein einziges Offshore-Bankkonto auf das mehrere Transaktionen von ihrem Klientenkonto gegangen waren. Die fragliche Summe belief sich auf etwa fünfzigtausend Dollar – verglichen mit der gestohlenen Gesamtsumme nicht viel. Doch es war der einzige Betrag, zu dessen Banksystem sie keinen Zugang bekam.
Als sie die Bank in Grand Bahama angerufen hatte, hatte man sich nicht kooperativ gezeigt und ihr klargemacht, dass sie von ihrer eigenen Bankenaufsicht autorisiert sein müsse, was jedoch selbst für Ermittler der SEC, der Börsenaufsichtsbehörde, oder der IRS, der obersten amerikanischen Steuerbehörde, kein Leichtes und für eine Anwältin, die ohne richterliche Verfügung oder Drohungen des Außenministeriums arbeitete, praktisch unmöglich sei.
Sally blieb es rätselhaft, wieso jemand pfiffig genug war, ihr Klientenkonto zu plündern, sich aber mit nur einem Fünftel der Summe zufriedengab. Die anderen Transaktionen ließen sich über schwindelerregend viele Zwischenstationen quer durchs Land letztlich doch zurückverfolgen und höchstwahrscheinlich auch zurückbekommen. Es war ihr immerhin gelungen, die Gelder an fast einem Dutzend verschiedenen Instituten einzufrieren, so dass sie dort unter verschiedenen, offensichtlich falschen Namen auf Abruf lagen. Wieso, fragte sie sich, hatte derjenige nicht einfach das ganze Geld in die Offshore-Konten eingezahlt, auf denen es höchstwahrscheinlich ganz und gar unerreichbar war? Der größere Teil des Geldes lag dort einfach auf Eis, und es würde sie immense Mühe kosten, es zurückzuholen. Das machte ihr schwer zu schaffen. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was für einer Straftatsie zum Opfer gefallen war. Fest stand, dass ihr Ruf als Anwältin Schaden nehmen, wenn nicht gar einen ernsten Riss bekommen würde.
Ebenso wenig konnte sie sich denken,
wer
ihr den schweren Schlag versetzt hatte.
Natürlich fiel ihr
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