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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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erster Verdacht auf die gegnerische Seite in dem Scheidungsverfahren. Doch sie konnte beim besten Willen keinen Sinn darin erkennen, dass ihr der Mann so viele Schwierigkeiten bereiten sollte, die schließlich nur zu einer Verschleppung des Verfahrens führen und damit beide Seiten Geld kosten würden. Bei Scheidungsfällen war sie natürlich an irrationales Verhalten gewöhnt, das hier aber stellte sie vor ein Rätsel. Normalerweise benahmen sich die Leute demonstrativ kleinlich und unausstehlich, wenn sie versuchten, Ärger zu machen. Die dezente Vorgehensweise in diesem Fall passte nicht dazu.
    Ihr zweiter Verdacht kreiste um die Möglichkeit, dass ein Gegner in einem ganz anderen Verfahren dahintersteckte. Vielleicht jemand, gegen den sie in der Vergangenheit gewonnen hatte?
    Das beunruhigte sie noch mehr. Die Vorstellung, dass jemand über einen längeren Zeitraum Rachegelüste hegte, dass er monatelang, wenn nicht gar Jahre damit wartete, zuzuschlagen, hätte aus
Der Pate
stammen können.
    Sally hatte die Kanzlei früher als sonst verlassen und war durch das Altstadtzentrum zu einem Restaurant gegangen, das sich mit einem pseudoirischen Namen schmückte und über eine ruhige, dunkle Bar verfügte, in der sie ihren zweiten Scotch mit Soda vor sich stehen hatte. Im Hintergrund hörte sie
Friend of the Devil
von The Grateful Dead.
    Wer hasst mich?, fragte sie sich.
    Wer immer hinter der Sache stecken mochte – eines war Sallysonnenklar: Sie musste es Hope erzählen. Das stand ihr vor Augen. Bei ihrem ohnehin gespannten Verhältnis war das so ziemlich das Letzte, was sie brauchen konnten. Sally nahm einen ausgiebigen Schluck von ihrem bitteren Drink. Irgendjemand da draußen hasst mich, und ich bin ein Feigling, dachte sie. Ein Freund des Teufels ist auch mein Freund. Sie betrachtete das Glas, kam zu dem Schluss, dass es auf der ganzen Welt nicht genug Alkohol gab, um ihr Unglück zu ertränken, schob es von sich und machte sich mit dem bisschen, was sie an aufrechtem Gang noch zustande brachte, nach Hause auf.
     
    Scott beendete seinen Brief an Professor Burris und las ihn noch einmal sorgfältig durch. Das Wort, das er gewählt hatte, um zu beschreiben, worum es hier ging, war
Schwindel
– er stellte den ganzen Vorgang so dar, als seien sie alle einem raffinierten, wenn auch rätselhaften Studentenstreich zum Opfer gefallen.
    Nur dass Scott darüber nicht lachen konnte.
    Der einzige Teil des sorgfältig aufgesetzten Briefs, der ihm leichtgefallen war, bestand in dem Abschnitt, in dem er Burris empfahl, sich die akademische Leistung von Louis Smith genauer anzusehen. Damit hoffte Scott der Karriere des jungen Mannes Auftrieb zu geben.
    Er unterschrieb die E-Mail und verschickte sie. Dann ging er nach Hause zurück und setzte sich in seinen alten, ramponierten Ohrensessel, um in Ruhe darüber nachzudenken, was da mit ihm geschehen war. Er wollte sich nicht dem Trugschluss hingeben, dass ein einziger Brief, selbst wenn er so klar formuliert war wie der, den er gerade abgeschickt hatte, ihn aus seiner misslichen Lage befreite. Ende der Woche stand ihm immer noch der herumschnüffelnde Reporter der Uni-Zeitung ins Haus. Mit zunehmender Dämmerung wurde es dunkel imZimmer, und Scott wusste, dass er sich früher oder später würde verteidigen müssen. Die Tatsache, dass der Vorwurf jeder Grundlage entbehrte, war dabei nur wenig von Belang und Überzeugungskraft. Irgendwo würde irgendjemand ihn für schuldig halten.
    Das Ganze machte Scott wütend, und er ballte die Hände zu Fäusten, dabei ahnte er nicht, dass Sally und Hope sich zur gleichen Zeit mit denselben Fragen quälten und dass ihnen allen sehr viel klarer gewesen wäre, woher ihre Probleme rührten, hätten sie nur gegenseitig von ihrem jeweiligen Missgeschick gewusst.
    Doch durch die Umstände und durch unglückliche Fügung kreiste jeder um sich selbst.
     
    Ashley wollte im Museum gerade Feierabend machen und packte ihre Sachen zusammen, als sie von ihrem Schreibtisch aufschaute und den stellvertretenden Direktor wenige Meter von ihr entfernt unbehaglich herumstehen sah.
    »Ashley«, sagte er gestelzt, während er den Blick über den Raum schweifen ließ, »ich würde gerne mit Ihnen sprechen.«
    Sie legte ihre kleine Mappe nieder und folgte dem Direktor pflichtbewusst in sein Büro. Das stille Museum hatte plötzlich etwas von einer Krypta, in der ihre Schritte widerhallten. Schatten schienen die Kunst an den Wänden in Mitleidenschaft zu ziehen, die

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