Das Opfer
schluchzte los.
»Ashley? Ashley Freeman? Die hab ich eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Seit Monaten, könnte auch über ein Jahr her sein. Wohnt sie noch in der Stadt?«
Ich antwortete nicht, sondern stellte eine Gegenfrage: »Sie haben zur selben Zeit hier im Museum gearbeitet wie sie?«
»Ja. Ein paar von uns hatten Teilzeitjobs, während wir uns auf diverse Prüfungen vorbereiteten.«
Ich befand mich in der Eingangshalle des Museums, nicht weit von dem Restaurant, in dem Ashley an dem Nachmittag vergeblich auf Michael O’Connell gewartet hatte.
Die junge Frau an der Rezeption trug ihr Haar an den Seiten sehr kurz geschnitten, während sie in der Mitte einen hochgegelten Kamm stehen ließ, was ihr ein gockelhaftes Aussehen verlieh. Eines ihrer Ohren zierten ein halbes Dutzend Ringe, das andere ein einziger großer, leuchtend orangefarbener Reif, was den Gesamteindruck in Schieflage brachte. Sie sah mit einem zarten, jugendlichenLächeln zu mir auf und stellte mir endlich die naheliegende Frage.
»Wieso interessieren Sie sich für Ashley? Ist etwas mit ihr?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich interessiere mich für einen Rechtsfall, mit dem sie in Verbindung stand. Ich mache nur ein bisschen Hintergrundrecherche. Wollte mal sehen, wo sie gearbeitet hat. Dann haben Sie sie also gekannt, als sie noch hier war?«
»Nicht besonders gut.« Die junge Frau zögerte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich glaube, es gab nicht allzu viele, die sie kannten, oder auch mochten.«
»Tatsächlich?«
»Na ja, ich hab mal zufällig mitgehört, wie jemand zu jemand anderem sagte, Ashley sei ganz und gar nicht das, was sie zu sein scheint, oder so was in der Art. Ich glaube, die meisten dachten so über sie. Als sie wegging, gab es ’ne Menge Getuschel und Spekulationen.«
»Wieso?«
»Sie haben irgendwas auf ihrem Computer hier im Museum gefunden, was sie in Schwierigkeiten brachte. Hab ich jedenfalls läuten gehört.«
»Irgendwas?«
»Na ja, total was anderes. Ist sie wieder in Schwierigkeiten?«
»Nicht direkt«, erwiderte ich.
»Schwierigkeiten
ist vielleicht nicht das richtige Wort.«
18
Als sich die Dinge zuspitzten
Michael O’Connell stellte fest, dass sein größtes Talent die Fähigkeit zu warten war. Dabei ging es nicht einfach nur darum, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten oder geduldig herumzusitzen. Richtiges Warten erforderte Planung und gezielte Vorbereitungen, so dass er in dem Moment, auf den er hingearbeitet hatte, den anderen Akteuren einen entscheidenden Schritt voraus war. Er betrachtete sich als eine Art Regisseur, als jemand, der den gesamten Handlungsverlauf Akt für Akt und Szene für Szene bis zum Ende vor sich sah. Er war ein Mann, der jeden erdenkbaren Schluss im Voraus kannte, da er alles ausnahmslos entwickelt hatte.
O’Connell hatte sich bis auf die Boxershorts ausgezogen, und sein Körper glänzte. Vor einigen Jahren hatte er in einem modernen Antiquariat ein Fitness-Übungsbuch erstanden, das sich Mitte der sechziger Jahre großer Popularität erfreut hatte. Dieses Programm stammte aus einem Lehrbuch der Royal Canadian Air Force über physische Gesundheit und war mit antiquierten Abbildungen von Männern in Shorts illustriert, welche Brücken, einarmigen Liegestütz und Rückenstrecker absolvierten. Es waren auch seltsame Verrenkungen dabei, die er gewissenhaft exerzierte, wie zum Beispiel in die Luft zu springen und die Knie dabei anzuziehen, so dass er seineZehen berühren konnte. Es war das Gegenteil zu Pilates, Billy Blank, Body by Jake oder Sechs-Minuten-Bauchübungstraining und wie sie nicht alle hießen, die im Tagesprogramm sämtlicher Fernsehkanäle liefen. Er war im Air-Force-Training inzwischen ziemlich gut und hatte sich unter seiner lose sitzenden, abgetragenen Studentenkluft den Körperbau eines Ringkämpfers antrainiert. Er hatte es ebenso wenig nötig, in irgendeinen Schickimicki-Fitness-Club einzutreten, wie Leib und Seele mit Langläufen am Ufer des Charles zu beleben. Er zog es vor, seine Muskeln daheim in seinem Zimmer zu modellieren und dazu gelegentlich über Kopfhörer eine vermeintlich satanische Rockgruppe wie Black Sabbath oder AC/DC zu hören.
Er legte sich hin, hob die Beine über den Kopf und ließ sie langsam wieder sinken. Dabei hielt er drei Mal die Position etwa zehn Zentimeter über dem Dielenboden, bevor er die Beine fallen ließ. Die Übung wiederholte er fünfundzwanzig Mal. Beim letzten Durchgang blieb er, die Arme seitlich
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