Das Opfer
im Weggehen hinzu, während Scott und Sally sich einen fragenden Blick zuwarfen.
Der Detective der bundesstaatlichen Polizei, der mir gegenübersaß, schien auf den ersten Blick ein überraschend aufgeräumter Mann zu sein, der wenig von den abgebrühten, weltverdrossenenFiguren in Kriminalromanen an sich hatte. Er war von mittlerer Größe und normalem Körperbau, trug einen blauen Blazer zur billigen khakifarbenen Hose, kurz geschnittenes dunkelblondes Haar und einen einnehmenden buschigen Schnurrbart auf der Oberlippe. Ohne die glänzende Neunmillimeter Glock, die er in einem Schulterhalfter an der Seite trug, wäre er als Handelsvertreter oder auch als Studienrat durchgegangen.
Er wippte auf seinem Stuhl zurück, ignorierte ein klingelndes Telefon und sagte: »Sie wollen demnach etwas über Stalking erfahren?«
»Ja. Ich recherchiere«, antwortete ich.
»Für ein Buch oder einen Artikel? Sie haben nicht ein persönliches Interesse an dem Thema?«
»Ich verstehe nicht ganz …«
Der Polizist grinste. »Na ja, klingt ein bisschen so wie der Kerl, der beim Doktor anruft und sagt: ›Ich hab diesen Arbeitskollegen, der möchte gerne wissen, ähm, welche die Symptome einer Geschlechtskrankheit sind, ähm, von Gonorrhö oder Syphilis. Und wie er, also, mein Kumpel, da drangekommen sein könnte, er hat nämlich ziemlich Schmerzen …‹«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie meinen, ich werde von einem Stalker belästigt und will …«
Er lächelte verschmitzt. »… Vielleicht sind ja Sie ein verkappter Stalker und suchen Rat, wie Sie vermeiden können, erwischt zu werden. So etwas Verrücktes brächte ein richtiger Stalker glatt fertig. Es ist grundsätzlich ein Fehler, sie zu unterschätzen. Und das, was sie planen und wann sie es in die Tat umsetzen.«
Wieder federte er auf seinem Stuhl zurück. »Ein dedizierter Stalker erhebt seine Obsession zu einer Wissenschaft. Und zu einer Kunst.«
»Inwiefern?«
»Er studiert nicht nur sein Opfer, sondern auch dessen Umfeld.
Familie. Freunde. Beruf. Schule oder Universität. Das Restaurant, in das die Zielperson gerne geht. Das Kino. Meinetwegen auch die Werkstatt, in der sie ihr Auto warten lässt, oder wo sie ihre Lottoscheine abgibt. Wo sie den Hund Gassi führt. Er schöpft alle möglichen Quellen – legal wie illegal – aus, um an möglichst viele Informationen zu kommen. Ständig taxiert er, plant er voraus. Jeder Gedanke gilt seinem Opfer, und das in einem Maße, dass er dessen nächste Schritte im Voraus ahnt, als könne er Gedanken lesen. Am Ende scheint er es fast besser zu kennen als es sich selbst.«
»Was treibt ihn letztlich dazu an?«
»Da sind sich die Psychologen nicht so recht einig. Obsessive Verhaltensweisen sind letztlich immer ein wenig rätselhaft. Eine Vergangenheit mit Ecken und Kanten?«
»Vermutlich wohl mehr als das.«
»Ja, vermutlich. Ich nehme stark an, dass man, wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzt, auf ziemlich scheußliche Sachen stößt. Missbrauch. Gewalt. Das ganze Programm.« Er schüttelte den Kopf. »Gefährliche Burschen, diese Stalker. Alles andere als gewöhnliche Kleinkriminelle. Ob man nun die Kassiererin an einem Campingplatz oder am Supermarkt um die Ecke ist, deren Exfreund aus der Motorrad-Gang sie verfolgt, oder ein Hollywood-Star mit einem Haufen Geld, dem ein obsessiver Fan nachstellt, man ist in großer Gefahr, denn egal, was man macht, sie kommen an einen ran, wenn sie es nur stark genug wollen. Die Vollzugsbehörden können allenfalls mit einstweiligen Verfügungen reagieren, aber nicht ein mögliches Verbrechen verhindern, und dasselbe gilt für die Gesetze gegen das Cyber-Stalking. Stalker wissen das. Und das Beängstigende ist, dass es ihnen oft sogar egal ist, vollkommen egal. Gegen die üblichen Sanktionen sind sie immun. Bloßstellung, finanzieller Ruin, Gefängnis, ja der Tod – das kann sie alles nicht schrecken. Das Einzige, was sie fürchten, ist, ihre Zielpersonaus dem Auge zu verlieren. Das beherrscht alles und wird ihnen zum einzigen Lebenssinn.«
»Was kann ein Opfer machen?«
Er griff in seinen Schreibtisch und zog eine Broschüre mit dem Titel
Sind Sie ein Stalking-Opfer? Ratschläge von der State Police Massachusetts
hervor.
»Wir geben ihnen diese Lektüre an die Hand.«
»Ist das alles?«
»Bis ein Verbrechen begangen wird. Und dann ist es meist schon zu spät.«
»Was ist mit Hilfsorganisationen und …«
»Nun ja, die können in dem einen oder anderen Fall
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