Das Opfer
nützlich sein. Sie bieten einen sicheren Ort, geheime Unterkunft, Selbsthilfegruppen, was weiß ich. Sie können in manchen Fällen gewisse Unterstützung gewähren. Und ich würde nie jemandem davon abraten, sich an diese Gruppen zu wenden, aber man muss behutsam vorgehen, denn es könnte auch eine Eskalation herbeiführen, die man nicht gewollt hat. Gewöhnlich ist es dafür allerdings sowieso zu spät. Wissen Sie, was wirklich verrückt ist?«
»Was?«
»Unsere Gesetzgebung hier in Massachusetts ist die fortschrittlichste überhaupt, wenn es um den Schutz der Bürger geht, aber ein entschiedener Stalker findet immer einen Weg, sie zu umgehen. Und was noch schlimmer ist – wenn Sie sich erst mal an die Polizei wenden, wenn Sie Anzeige erstatten und den Fall protokollieren lassen und eine gerichtliche Verfügung gegen den Stalker erwirken, dass er Ihnen vom Halse bleiben muss, können Sie genau damit ein Desaster auslösen. Den Kerl zu einer unüberlegten Handlung treiben, so dass er sein ganzes Arsenal ins Feld führt und erklärt: ›Wenn ich dich nicht haben kann, dann kriegt dich auch kein anderer.‹«
»Und …«
»Gebrauchen Sie Ihre Phantasie, Sie sind doch Schriftsteller. Sie wissen, was passiert, wenn ein Kerl als Rambo verkleidet, im Tarnanzug, mit einer Zwölf-Schuss-Automatik, mindestens zwei Pistolen und genügend Munition am Gürtel, um stundenlang eine ganze Spezialeinheit in Schach zu halten, am Arbeitsplatz oder bei Ihnen zu Hause aufkreuzt. Haben Sie doch alles schon im Film gesehen.«
Ich sagte nichts, während ich die entsprechenden Szenen vor Augen sah. Der Detective grinste wieder.
»Eins sollten Sie wissen: Soweit wir es sowohl aus Sicht des Kriminologen als auch aus Sicht der forensischen Psychologie beurteilen können, entspricht das Profil eines dedizierten Stalkers mehr oder weniger dem eines Serienkillers.« Er lehnte sich zurück. »Da kommt man ins Grübeln, oder?«
20
Richtiges und falsches Handeln
Hat einer von euch eine konkrete Vorstellung dessen, womit wir es hier zu tun haben?«
Sallys Frage stand im Raum.
»Ich meine, was wissen wir, abgesehen von dem wenigen, das Ashley uns erzählt hat, über den Kerl, der in ihr Leben eingebrochen ist?«
Sally drehte sich zu ihrem Ex um. Sie war beim Scotch geblieben und hätte längst betrunken sein müssen, war aber aus schierer Nervosität stocknüchtern. »Scott, außer Ashley bist du der Einzige von uns, der den Typen gesehen hat. Ich nehme an, du hast bei eurer Begegnung deine Beobachtungen gemacht, ein Gefühl für den Mann entwickelt. Vielleicht sollten wir damit beginnen …«
Scott zögerte. Er war daran gewöhnt, ein Gespräch in einem Seminarraum zu moderieren, und so musste er sich erst in die Situation hineinfinden, dass plötzlich ihm eine Frage gestellt wurde. »Er war ein Typ, mit dem wohl keiner von uns vertraut sein dürfte«, sagte er vorsichtig.
»Wie meinst du das?«, fragte Sally.
»Na ja, er war kräftig gebaut, gutaussehend und offensichtlich ziemlich intelligent, gleichzeitig hatte er aber auch etwas Ungehobeltes, so wie man es von einem Mann erwarten würde,der gerne Motorrad fährt, einer gering qualifizierten Arbeit nachgeht und nach der Highschool Volkshochschulkurse belegt. Mein Eindruck war, dass er aus unterprivilegierten Verhältnissen stammt, ein Typ, wie er nicht allzu oft bei mir am College zu finden ist, oder auch bei Hope, und vollkommen anders als die Jungs, die Ashley sonst anschleppt, in die sie eben noch unsterblich verliebt ist, um ihnen vier Wochen später den Laufpass zu geben. Das war meistens der Künstlertyp, schmalbrüstig, mit langen Haaren und nervös. O’Connell schien dagegen taff und gewieft. Vielleicht bist du dem einen oder anderen von diesem Schlag schon in deiner Kanzlei begegnet, aber ich vermute, dass du eher die gehobenen Schichten vertrittst.«
»Und dieser Kerl …«
»… Unterschicht. Aber das muss ja kein Nachteil sein.«
Sally überlegte. »Was zum Teufel hatte Ashley überhaupt mit dem zu schaffen?«
»Sie hat mit ihm einen Fehler gemacht«, erklärte Hope. Sie hatte schweigend dagesessen, hatte Nameless den Rücken gestreichelt und innerlich gekocht. Erst war sie nicht sicher gewesen, ob es ihr zustand, an dem Gespräch teilzunehmen, doch dann war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie sehr wohl ein Wörtchen mitzureden hatte. Sie begriff nicht, wie Sally so distanziert sein konnte, als ginge sie das alles, einschließlich ihrer plötzlich prekären
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