Das Opfer
gewinnen.«
Michael O’Connell hörte auf seinem iPod die Rolling Stones. Als Mick Jagger »All your love is just sweet addiction …« sang, tanzte er fast die Straße entlang, ohne auf die Passanten zu achten, die ihn anstarrten, als er mit den Füßen den Rhythmus des Schlagzeugs auf dem Bürgersteig stampfte. Er ließ sich von den Klängen inspirieren und stellte sich vor, welcher Takt zu seinem nächsten Schritt am besten passte, den er mit Ashley unternehmen würde. Etwas, womit sie nicht rechnete, dachte er, etwas, das ihr eindringlich vor Augen führte, wie hautnah er immer bei ihr war.
Er glaubte nicht, dass sie das bis jetzt wirklich begriffen hatte. Bis jetzt noch nicht.
Er hatte vor ihrer Wohnung gewartet, bis er sah, dass alle Lichter gelöscht waren, und er wusste, dass sie sich schlafen gelegt hatte. Ashley verstand auch nicht, um wie viel leichter es war, im Dunkeln zu sehen. Eine Lampe macht nur einen bestimmten Ausschnitt sichtbar. Es war viel klüger, Gestalten und Bewegungen im Schatten der Nacht zu erkennen.
Die besten Raubtiere, rief sich O’Connell ins Gedächtnis, waren nachtaktiv.
Der Song war zu Ende, und er blieb auf dem Bürgersteig stehen. Auf der anderen Straßenseite sah er ein kleines Programmkino, in dem ein französischer Film mit dem Titel
Nid de guêpes
lief. Er glitt wieder in den Schatten und beobachtete die Leute, die aus dem Kino kamen. Wie erwartet, waren es vor allem junge Paare. Sie schienen beschwingt und hatten nicht diesen typischen Ausdruck,
Ich habe gerade etwas Bedeutungsvolles gesehen
, wie so viele, wenn sie aus einem dieser Cineastenkinos kamen. Sein Blick fiel auf ein junges Paar, das Arm in Arm lachend auf den Bürgersteig trat.
Die beiden irritierten ihn augenblicklich. Er merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, und er ließ sie nicht aus den Augen, als sie auf dem Bürgersteig gegenüber ein Neonlicht passierten. Er presste die Zähne zusammen und hatte einen scharfen Geschmack auf der Zunge.
Es war nichts Bemerkenswertes an dem Paar, und dennoch brachten die beiden ihn vollkommen in Rage. Er sah, wie sich die junge Frau an den Jungen schmiegte, seinen Arm nahm und mit ihrem verschränkte, so dass sie wie eine einzige Gestalt im Gleichschritt die Straße hinunterliefen, ein Moment der öffentlichen Intimität. O’Connell beschleunigte seine eigenen Schritte und lief auf seiner Straßenseite neben den beiden her, so dass er sie aus größerer Nähe betrachten konnte, während sich in ihm blanke Wut zusammenbraute.
Sie rieben im Gehen ihre Schultern aneinander und neigten sich einander zu. O’Connell sah, dass sie abwechselnd lachten, lächelten und sich angeregt unterhielten.
Er glaubte nicht, dass sie schon lange zusammen waren. Ihre Körpersprache, ihre Bewegungen, ihre Gesten, die Art, wie sie einander zuhörten und lachten, verriet die Aufregung desNeuen, erstes Werben und Kennenlernen. Er sah, wie das Mädchen den Arm des Jungen stärker umfasste, und er zog den Schluss, dass sie schon miteinander geschlafen hatten, wahrscheinlich aber erst ein Mal. Bei jeder Berührung, jeder Zärtlichkeit, jedem Moment der Erkundung sprühten Funken, alles war verheißungsvoll.
Er spürte einen abgründigen Hass.
Es fiel O’Connell nicht schwer, sich auszumalen, wie sie den Rest der Nacht verbringen würden. Es war schon spät, also würden sie nicht erst noch bei Starbucks auf einen Kaffee oder bei Baskin-Robbin für ein, zwei Kugeln Eis haltmachen, auch wenn sie vor beiden stehenbleiben und so tun würden, als dächten sie ernsthaft darüber nach, wo sie sich doch in Wahrheit nur gegenseitig verschlingen wollten. Der Junge plauderte wahrscheinlich weiter über Filme, über Bücher, über irgendwelche Seminare an seinem College, und das Mädchen hörte zu, warf gelegentlich ein Wort ein, während sie die ganze Zeit mehr darauf hörte, was für ein Mensch er war und was er ihr bedeuten könnte. Der Junge brauchte nicht mehr Ermutigung als den Druck an seinem Arm. Sie werden lachend in die Wohnung gehen. Und waren sie erst einmal drinnen, wäre es eine Sache von Sekunden, bis sie das Bett gefunden und sich ausgezogen hatten. Die ganze Müdigkeit nach einem langen Tag wäre wie weggeblasen, wenn sie Liebe machten.
Er atmete schwer, obschon auch leise.
So etwa haben sie sich das gedacht. So hätten sie es gerne. So ist es geplant.
Er lächelte. Aber nicht heute Nacht.
Er lief schneller und hielt sich auf gleicher Höhe wie das Paar, ließ die
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