Das Opfer
nachdem Larissa geendet hatte. »Du hast dir die Energie von Leuten aus der näheren Umgebung geholt. Das ist erstens verboten und zweitens ineffektiv – das Potenzial ist viel zu gering.«
»Und woher soll man die Energie sonst nehmen?«
»Ganz einfach: kaufen.« Slatka genoss Larissas Verblüffung. »Der Verkauf von magischer Energie ist ein Vorrecht der Herrscherhäuser, aber darüber sprechen wir später.« Die Fee hatte völlig das Interesse an der schüchternen Blondine verloren. Ohnehin war sie der Meinung, dass es Sache der Humos war, sich um Humos zu kümmern. »Du musst zuerst noch einige Formulare ausfüllen. Wir brauchen sämtliche Informationen über dich und deine Familie.«
»Ja, klar.«
»Dazu musst du in Zimmer acht gehen.«
Magie hin oder her – allmählich kam die junge Frau sich vor wie im Einwohnermeldeamt. In Zimmer acht erwarteten Larissa der schon obligatorische schwarze Schreibtisch, ein grüner Lederstuhl, vier Kakteen auf dem Fensterbrett und eine füllige alte Dame mit lockigem, bläulich schimmerndem Haar. Sie hatte sich ein warmes Stricktuch umgeworfen und auf ihrer winzigen Nase saß eine dicke Brille.
»Setz dich, Larissa.«
»Vielen Dank.«
Nachdem Larissa Platz genommen hatte, erblickte sie auf dem Schreibtisch dieselbe dünne, gelbe Mappe, die vor einer Minute noch vor Slatka gelegen hatte.
»Ich heiße Barbara Iljinitschna«, teilte die Dicke mit, während sie die Mappe öffnete. »Ich werde dir ein paar Fragen zu deiner Biografie, deiner Arbeit und deinen Hobbys stellen. Du kannst ganz beruhigt sein. Dies ist weder eine Prüfung noch ein Verhör. Du bist schon in die Schule aufgenommen, jetzt müssen wir lediglich noch ein paar statistische Dinge erledigen.« Die Alte zwinkerte Larissa komplizenhaft zu. »Nicht einmal in der Zauberei geht es ohne Bürokratie.«
»Da kann man nichts machen.«
»Ich brauche die vollen Namen deiner Eltern, ihre Geburtsdaten und -orte und den Mädchennamen deiner Mutter.«
Barbara Iljinitschna war eine Humo-Frau, arbeitete bereits seit zweiundvierzig Jahren in der Zweigstelle der Sonnensee-Schule und verfügte über eine ausgesprochen seltene Gabe: Sie konnte Magier spüren. Doch damit nicht genug. Sie konnte nicht nur spüren, ob jemand ein Magier war, sondern auch sein magisches Potenzial einschätzen, und das von Anfang an. Barbara Iljinitschna war in der Lage vorauszusagen, wie weit es ein Kind auf dem Gebiet der Zauberei bringen konnte, und sie irrte sich dabei niemals. Selbst die Priesterinnen des Grünen Hofs zogen sie zurate, wenn es darum ging, sich ein Urteil über junge Zauberinnen zu bilden. Ihr Wort hatte Gewicht.
Während sie mechanisch Larissas Angaben notierte, ließ die alte Dame den Scanner ihrer Intuition über die junge Frau gleiten und staunte nicht schlecht: Dieses blonde Mädel verfügte über ein – nach menschlichen Maßstäben – exorbitantes und selbst nach Maßstäben der Verborgenen Stadt bemerkenswertes magisches Potenzial! Bei entsprechender Ausbildung konnte Larissa mindestens das Niveau einer Fate des Grünen Hofs erreichen.
Erstaunlich, dass Slatka das nicht aufgefallen war. Barbara Iljinitschna presste die Lippen zusammen. Die zunehmende Arroganz der Rektorin der Zweigstelle ging ihr in letzter Zeit ohnehin auf die Nerven. Die Luden hatten eine völlig falsche Vorstellung von den magischen Möglichkeiten der Menschen und waren davon überzeugt, dass die Humos niemals mächtige Magier hervorbringen würden. Doch Barbara wusste, dass es durchaus Ausnahmen gab. Subtile genetische Veränderungen, gemischte Ehen und natürliche Mutationen in der Nähe starker Magischer Quellen führten immer wieder dazu, dass auch unter den Menschen begabte Zauberer auf den Plan traten.
Barbara kannte sogar persönlich eine Menschenfrau, die selbst Priesterinnen des Grünen Hofs in Sachen Magie absolut ebenbürtig war. Die Priesterinnen hatten indes keine Ahnung von der Existenz dieser Frau. Und auch von diesem begabten Mädel würden sie nichts erfahren. Was konnten sie ihr schon geben? Den jämmerlichen Bodensatz ihres Wissens? Sie würden ihr ein paar primitive Zauberkunststückchen beibringen, ihr erlauben, privat zu praktizieren, und ihr dann ein Vermögen für die Nutzung der magischen Energie abknöpfen. In den Händen von Priesterinnen, Faten und Feen, die den Humos ohnehin nichts zutrauten, wäre das außergewöhnliche Talent dieser jungen Frau verschwendet gewesen. Es gab nur einen Menschen, der sie wirklich
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