Das Opfer
Grinsens.
Franz kannte Santiagos ironisch-herablassende Art nur zu gut und hatte nicht vor, sich provozieren zu lassen. Gleichmütig stellte er seinen Krug ab und wischte sich abermals den Schaum von den Lippen.
»Sie hatten nicht vor, dich zu töten.«
»Leider haben sie mich nicht darauf hingewiesen, dass es sich nur um eine Übung handelt.«
»Ich habe doch schon gesagt, dass das Herrscherhaus Tschud sich entschuldigt. Was willst du denn noch?«
»Warum wurde ich angegriffen?«
»Weißt du das etwa nicht?«
»Ich würde gern Ihre Version dazu hören, Kapitän.«
»Die werde ich dir sagen.« Franz trank sein Bier aus und ließ den leeren Krug geschickt über den Tresen flitzen. »Aber vorher erklärst du mir, was du gegen Bogdan le Sta hast.«
Die braunen Augen des Tschuden bohrten sich zum ersten Mal in den undurchdringlich stoischen Blick des Kommissars.
»Offiziell gar nichts«, beschied Santiago grinsend.
»Und inoffiziell?«
»Und inoffiziell bin ich dem Orden keine Rechenschaft schuldig.«
»Verstehe.« Gonzo brachte einen frisch gefüllten Krug Bier. Franz trank den Schaum ab und setzte dann leise fort: »Bogdan ist mein Freund. Wir sind zusammen aufgewachsen, zusammen in die Garde eingetreten und zusammen in den Krieg gezogen. Vor fünfzig Jahren hat er mir das Leben gerettet. Jetzt verfolgst du ihn, und ich möchte wissen, warum.«
»Sie stehen also in seiner Schuld?«
»Er ist mein bester Freund.«
Santiago schob die Tasse mit dem kalt gewordenen Rest des Kaffees beiseite.
»Ihr bester Freund ist im Begriff, ein Traumarkan zu wirken.« Franz schwieg. »Offenbar ist das keine Überraschung für Sie.«
»Ich habe mich bereits über die Situation informiert.«
»Verzeihen Sie, aber ich glaube Ihnen nicht.« Santiago hob flüchtig die Hand, und Gonzo machte sich unverzüglich daran, einen weiteren Kaffee zuzubereiten. »Meiner Einschätzung nach wussten Sie von vorneherein, dass Bogdan vorhat, einen verbotenen Zauber zu wirken, und haben trotzdem nichts dagegen unternommen. «
»Gewusst habe ich es nicht, aber geahnt.«
»Dann hätten Sie der Sache sofort nachgehen und Ihrem Freund Einhalt gebieten müssen. Das Wirken eines verbotenen Zaubers ist ein schweres Verbrechen. Sie haben gegen die Konvention von Kitai-Gorod verstoßen, weil Bogdan Ihr Freund ist.«
Der Kriegsmeister umkrallte den Bierkrug, als wollte er ihn zerquetschen, und aus seinem Blick sprach abgrundtiefe Verachtung.
»Was verstehst du schon von Freundschaft, Naw?«
»Möglicherweise nichts«, räumte der Kommissar bereitwillig ein. »Dafür kenne ich mich mit den Spielregeln aus.«
»Freundschaft hat ihre eigenen Regeln.«
»Nach diesen Regeln können Sie mit Bogdan spielen, aber nicht mit mir!«, versetzte Santiago barsch. Die schwarzen Augen des Kommissars blitzten unheilvoll, und Franz wurde schmerzlich klar, dass dieser eiskalte Naw sein Opfer nicht entkommen lassen würde. »Woher weiß der Kriegskommandeur le Sta, wie das Traumarkan funktioniert?«
Der Tschud war so demoralisiert, dass er die Frage nicht registrierte.
»Was?«
»Woher weiß der Kriegskommandeur le Sta, wie das Traumarkan funktioniert?«, wiederholte der Kommissar. »Hatte er Zugang zum Buch der verbotenen Zauber? «
»Nein.«
»Haben Sie das überprüft?«
»Was macht das für einen Unterschied?«
»Einen ganz erheblichen sogar«, erwiderte Santiago scharf. »Nach meinen Berechnungen wird der Kriegskommandeur le Sta das Arkan innerhalb der nächsten drei bis vier Stunden vollenden. Wenn es Ihnen innerhalb dieser Zeitspanne gelingt, herauszufinden, woher er die Regeln für das Arkan weiß, werde ich darauf verzichten, ihn zu töten. Das ist Ihre Chance, Kapitän, Ihrem Freund einen Dienst zu erweisen.«
»Ist das ein Deal?«
»Das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.«
»Und was wird aus den Spielregeln?«
Der Kommissar zog verwundert die Brauen hoch: »Die Spielregeln haben sich nicht geändert, Franz. Auch wenn sich aufklärt, woher Bogdan le Sta die Regeln des Arkans weiß, wird der Dunkle Hof ihn wegen eines Verstoßes gegen die Konvention von Kitai-Gorod zur Rechenschaft ziehen, aber ich werde ihn in diesem Fall nicht daran hindern, das Arkan zu vollenden.«
Vergeblich versuchte de Geer, die Gedanken, die sich hinter Santiagos undurchdringlichem Blick verbargen, zu erraten.
»Warum solltest du das zulassen?«, fragte er schließlich misstrauisch.
»Warum nicht?«, entgegnete der Kommissar achselzuckend. »Er will es doch
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