Das Opfer
fördern und ihre Begabung zur Blüte bringen konnte.
Nachdem Larissa gegangen war, saß Barbara Iljinitschna minutenlang schweigend an ihrem Schreibtisch und betrachtete nachdenklich ihre Fingernägel. Dann griff sie beherzt zum Kugelschreiber und trug in der Spalte »Bewertung« ein: »Magische Fähigkeiten: 40 % einer Fee, maximal erreichbares Potenzial: 60 % einer Fee.« Und in der Spalte »Empfehlungen« schrieb sie: »Grundausbildung, maßvolle Förderung der Karriere, Einsatz nur für einfache Aufgaben.«
Die überhebliche Fee Slatka machte sich niemals die Mühe, Barbaras Bewertungen von Humos zu kontrollieren.
Die alte Dame schloss Larissas Mappe, nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer.
»Kara? Guten Tag. Hier ist Barbara Iljinitschna.«
Kara hatte sofort wieder das runzelige, gutmütige Gesicht der alten Zauberin vor Augen und traf sofort den richtigen Ton.
»Wie geht’s Ihrem Enkel, Barbara Iljinitschna?«
»Er hat schon den ersten Zahn bekommen!«, berichtete die Alte stolz.
»Wie schön!« Der freudige Ton in Karas Stimme ließ keinen Zweifel an ihrer ehrlichen Anteilnahme. »Haben Sie seine magischen Fähigkeiten schon überprüft?«
»Dafür ist es wohl noch ein wenig zu früh.«
»Mag sein, aber trotzdem, je früher man mit der Förderung beginnt, desto besser.«
»Sicher haben Sie Recht. Ich habe eine interessante Neuigkeit für Sie, Kara.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Ich habe heute eine junge Frau kennengelernt. Auf den ersten Blick schien sie mir schon ein bisschen zu alt für eine Ausbildung, doch sie verfügt über ein beachtliches Potenzial.«
»Wie beachtlich konkret?«
»Ich denke, Sie könnte sogar Ihr Niveau erreichen.«
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich muss man sie noch genauer unter die Lupe nehmen«, relativierte Barbara Iljinitschna, doch dann besann sie sich und fügte hinzu: »Aber eigentlich bin ich mir völlig sicher.«
»Ich möchte sie kennenlernen«, sagte Kara. »Wie heißt sie?«
»Larissa Kusnezowa.«
Bar Rennsemmel
Moskau, Bolschaja-Dmitrowka-Straße
Samstag, 16. September, 15:11 Uhr
Etwa fünf Minuten nachdem Santiago sich mit einem Tässchen Kaffee gemütlich an der Bar eingerichtet hatte, betrat Franz de Geer, der Kapitän der Garde des Großmagisters und Kriegsmeister des Ordens die Rennsemmel . Der Barkeeper Gonzo genoss den Ruf, den stärksten und zugleich besten Kaffee der Verborgenen Stadt zu kredenzen, und der Kommissar versäumte es bei seinen Besuchen niemals, sich die eine oder andere Tasse des aromatischen Elixiers einzuflößen. Selbstverständlich trank er ihn schwarz, ohne Zucker und ohne Milch.
Wie immer um diese Tageszeit war die Bar praktisch leer. Grußlos nahm Franz auf dem Barhocker rechts von Santiago Platz und nickte Gonzo beifällig zu, als der ihm unaufgefordert einen Krug dunkles Bier vor die Nase stellte.
»Wieso wolltest du mich treffen, Naw?«, fragte Franz mürrisch, nachdem der Barkeeper sich zurückgezogen hatte.
»Guten Tag, Franz.« Santiago nippte an seinem Kaffee und schenkte dem Kriegsmeister ein höfliches Lächeln. »Es tut mir leid, wenn ich Sie von wichtigen Angelegenheiten abhalte. Doch wie Sie sicher verstehen werden, kann ich nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn Gardisten des Großmagisters versuchen, mich zu töten.«
Franz trank einen großen Schluck Bier, stellte seinen Krug wieder ab und wischte sich den Schaum vom Mund. Im Halbdunkel der Bar funkelte der blutrote Rubin an seinem linken kleinen Finger.
»Ist das eine offizielle Protestnote?«
»Nein. Ich bringe lediglich meine persönliche Verwunderung über den Vorfall zum Ausdruck.« Der Kommissar sah seinen Gesprächspartner kopfschüttelnd an. »Was haben Sie sich dabei gedacht, als Sie diese Bürschchen auf mich angesetzt haben?«
»Das Herrscherhaus Tschud entschuldigt sich offiziell für das Missverständnis«, presste Franz zähneknirschend hervor. »Die Aktion entsprang einer nicht sanktionierten Eigenmächtigkeit einiger Gardisten. Sie werden streng bestraft werden.«
»Er, nicht sie«, verbesserte Santiago. »Den Usurpator Theodor le Mans können Sie bestrafen. Die anderen drei sollten Sie lieber beerdigen.«
De Geer grummelte etwas Unverständliches vor sich hin und griff abermals nach seinem Bierkrug.
»Sieht ganz so aus, als hätte ich im Umgang mit Kampfzaubern noch nichts verlernt«, setzte der Kommissar hinzu und dabei umspielte seine schmalen Lippen der Anflug eines schadenfrohen
Weitere Kostenlose Bücher