Das Orakel der Seherin
der Gruppe betrachten mich, während ich eintrete. Alles hier ist sehr ordentlich und sauber. Das Mobiliar ist eher klassisch als modern. In der Luft liegt ein schwacher Duft nach gebratenem Hühnchen, Kartoffelbrei und Brokkoli. Also sind diese Leute hier – im Gegensatz zu Suzama selbst – keine Vegetarier.
Ich schaue mir die Gesichter an und bin erstaunt über ihre Unschuld. Wo diese Leute wohl den Gebrauch ihrer automatischen Waffen üben? Vielleicht in der Wüste, wo kein Fremder sie hört? Allein der Besitz einer solchen Waffe ist ohne Schein strafbar und wird mit Gefängnis geahndet. Dr. Seter muß davon überzeugt sein, daß sich der Feind in unmittelbarer Nähe befindet, um zu solchen extremen Methoden zu greifen. Natürlich bin ich die Letzte, die ein Recht hat, über ihn zu urteilen. Schließlich war ich es, die Kalika mitten in der Nacht frisches Menschenblut besorgt hat, damit sie aufhört zu schreien – und nicht Dr. Seter. Meine teure Tochter – wie schnell sie erwachsen geworden ist und übermenschlich stark. Sie ist selbst mir im Kampf überlegen, das kann ich aus bitterer Erfahrung sagen.
Die Erinnerung an Eric Hawkins, den Jungen, den Kalika förmlich ausgeblutet hat, verläßt mich nie.
»O Gott, ich blute! Sie hat meine Halsschlagader geöffnet, und das Blut strömt heraus. Hilf mir!«
Aber ich konnte ihm nicht helfen. Auch ich habe ihn nur benutzt.
Eine junge Frau in ungefähr meinem Alter tritt vor und reicht mir die Hand.
»Mein Name ist Lisa«, sagt sie. »Und Sie sind Alisa, nicht?«
»Ja.«
»Wir haben gehört, daß sie Hieroglyphen lesen können.«
»Hieroglyphen und Comics waren schon immer meine Lieblingslektüre«, erkläre ich und höre hier und da leises Lachen. »Woher kommen Sie, Lisa?«
»Norddakota. Dort habe ich auch Dr. Seter letztes Jahr kennengelernt…«
»Lisa ist bei uns für Buchführung und Rechnungswesen verantwortlich«, unterbricht Dr. Seter. »Ich nenne sie Chef.«
Die Mitglieder der Gruppe lachen, und ich spüre, wie sehr sie Dr. Seter lieben.
Dann führt man mich ins Kellergeschoß. Wenige Gebäude in Südkalifornien haben einen Keller, und dieser hier ist mehr als ungewöhnlich. Als James die Tür hinter uns schließt, bemerke ich, daß sie eine dicke Gummidichtung hat.
Fast gleichzeitig fällt mir auf, daß der Luftdruck sich verändert, und mir ist sofort klar, warum. Man will vermeiden, daß Staub oder Feuchtigkeit eindringen, denn dadurch könnte die Schrift Schaden nehmen. Die Luft in diesem Raum wird daher sorgfältig gefiltert.
Sechs Personen aus der Gruppe begleiten mich ins Untergeschoß, darunter natürlich Dr. Seter und James. Ein junger Mann namens Charly geht zu einem Tresor am Ende des Kellers. Mitten im Raum befindet sich ein großer weißer Tisch, der hervorragend beleuchtet ist und an dessen einem Ende ein stark vergrößerndes Mikroskop steht. Außerdem gibt es eine Anzahl Vergrößerungsgläser und Lupen. Charles gibt eine Kombination ins Tresorschloß ein. Sein Körper verdeckt das Schloß, aber ich höre genau hin und erfahre so die Kombination: R48, L32, R16, L17, R12, L10.
Die Tresortür öffnet sich. Charles entnimmt dem Schrank ein hellgelbes Papyrusblatt, das in säurefreies Papier eingewickelt ist, trägt es zu dem Tisch und plaziert es unter den Leuchten. Die Schrift ist etwa einen Fuß breit und zwei Fuß lang. Ich spüre, wie mein Herz vor Aufregung heftig zu klopfen beginnt.
Sogar durch das Einwickelpapier rieche ich den Duft des alten Ägypten!
Ich erkenne die Hieroglyphen sofort.
Es ist eine kleine Schrift voller Kraft!
Ohne Zweifel hat Suzama sie geschrieben!
Nachdem er das Papier entfernt hat, bedeutet Dr. Seter mir näher zu treten, damit ich den Papyrus betrachten kann.
Ich beuge mich über den Tisch. Dr. Seter ahnt nicht, daß ich die kleingeschriebenen Hieroglyphen sehr viel schneller entziffern kann, als er ein Buch in Großdruck lesen würde. James steht direkt hinter mir und folgt meinem Blick.
Ich beginne zu lesen.
Ich bin Suzama, und meine Worte entsprechen der Wahrheit. Die Vergangenheit und die Zukunft sind eins für mich, denn ich kann sie gleichermaßen sehen.
Euch, die ihr diese Worte lest, warne ich, an ihnen zu zweifeln, denn durch Zweifel würdet ihr von eurem Weg abkommen. Ich bin Suzama, und ich stehe für die Wahrheit.
Der Herr aller Schöpfung befindet sich innerhalb und außerhalb all dessen, was er geschaffen hat. Er ist in der Lebenskraft einer Blume, und er ist auch im leeren
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