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Das Orakel der Seherin

Das Orakel der Seherin

Titel: Das Orakel der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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Wüste. Über mir scheint hell der Mond, und ich muß an damals denken, als ich in der Wüste vor Las Vegas knapp einer Atombombenexplosion entkommen bin, indem ich meinen Körper mit Mondlicht füllte und hoch in den Himmel entschwebte. Als ich durch das sandige Gelände gehe, in dem die Joshua-Bäume wie Zeugen aus einem anderen Zeitalter stehen, spüre ich, wie mein Schritt leichter wird. Es ist fast, als könne ich vom Boden abheben, und dieses Gefühl läßt mein Herz aufgeregt klopfen. Zu den Sternen fliegen – und damit dem Gefängnis entfliehen, das meine Probleme zur Zeit für mich darstellen. Meine unbedeckten Arme beginnen in dem unwirklichen Licht weiß zu schimmern. Fast meine ich, durch sie hindurchsehen zu können.
    Dann entdecke ich die Stelle. Ich weiß sofort, daß es hier gewesen sein muß –
    auch ohne einen Blick auf die hohen Bäume zu werfen, die den Ort umgeben.
    Der Platz strahlt eine unglaubliche Ruhe aus, fast wie ein Heiligtum. Wie magisch zieht es mich dorthin. Ohne Zweifel ist hier etwas sehr Bedeutungsvolles geschehen. Innerhalb einer Minute stehe ich auf dem Felsvorsprung, auf dem Paula meiner Überzeugung nach ihr Kind empfangen hat.
    Langsam erhebe ich meine Arme zu den Sternen.
    »Suzama!« rufe ich. »Zeig mir, was du gesehen hast!«
    Es erfolgt keine Antwort; zumindest ist sie nicht offensichtlich. Doch ich spüre, wie mich eine Welle der Müdigkeit überkommt, und ich setze mich hin, schließe meine Augen und meditiere im Rhythmus meines Atems und des geheimen Mantras. Bald schon fließt weißes Licht, nicht von oben, sondern aus mir heraus, und ich bin erfüllt von Erinnerungen. Es sind Erinnerungen an Nächte voller Wunder und Schrecken, Erinnerungen an eine knabenhaft gebaute Seherin, die nicht nur die Geburt, sondern auch den Tod Gottes voraussagte.
    Natürlich gab es einen Grund dafür, daß Suzama so jung sterben mußte, und möglicherweise war ich nicht unschuldig daran.
    Als ich in Ägypten ankam, waren fünfzig Jahre seit dem Tode Lord Krishnas vergangen, fünfzig Jahre des dunklen Zeitalters, das später als Kali Yuga bekannt werden sollte. Auf den Spuren abenteuerlustiger Kaufleute, die den Fernen Osten Jahrtausende vor Marco Polo bereisten, erreichte ich ein Ägypten, das sich mir voller Reichtum und Pracht darbot. Ehrlich gesagt, war ich überwältigt und gleichzeitig erleichtert, weil ich Indien hinter mir gelassen hatte
    – das Land, in dem Yaksha einen blutigen Kampf gegen alle Vampire führte. Er hatte Krishna den Eid geleistet, die Lebewesen der Nacht komplett auszurotten.
    Für eine junge Vampirin wie mich stellte das helle Tageslicht eine große Belastung dar. Während ich auf dem Rücken eines Kamels in die verzauberte Stadt einritt, hielt ich meinen Kopf mit vielen Lagen Tuch bedeckt. Die Sonne brannte sich in mein Gehirn und saugte förmlich alle Kraft heraus. Doch der Anblick der Großen Pyramide, die viermal so riesig war wie das Bauwerk, das heute den gleichen Namen trägt, ließ mich erschauern. Über und über mit Elfenbein und glitzerndem Gold überzogen, raubte es mir fast den Atem.
    Während die glühenden Sonnenstrahlen mein Blut immer mehr erhitzten, dachte ich nur daran, ins kühle, dunkle Innere dieses Bauwerks zu fliehen, dort auszu-ruhen und die Strapazen meiner Reise zu vergessen. Ich hielt es für einen bloßen Zufall, daß Suzama selbst einer der ersten Menschen war, denen ich in dieser magischen Stadt begegnete.
    Damals war sie noch keine Hohepriesterin. Sie war sechzehn Jahre alt, hatte langes dunkles Haar und leuchtende, freundliche Augen und trug das Gewand einer Sklavin. Sie fiel mir auf, als sie sich über das Wasser des Nil beugte, um ein Tongefäß vollzuschöpfen. Fast hatte ich das Gefühl, daß sie erstarrte, als ich mich ihr auf meinem von der Reise erschöpften Kamel näherte. Sie wandte sich zu mir um, ganz so, als ob sie meine Ankunft spürte. Später erzählte sie mir, daß sie zuvor bereits viele Visionen von meiner Ankunft gehabt hätte. Als unsere Blicke sich trafen, begann mein Herz heftiger zu schlagen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals von ihr geträumt zu haben, aber ich wußte sofort, daß ich ihr Gesicht niemals wieder vergessen würde – weder im Schlaf noch zu Zeiten des Wachseins.
    Suzama war nicht einfach schön, obwohl man sie gewiß in jedem Zeitalter attraktiv gefunden hätte. Ihr besonderer Reiz lag in den Zügen, die Entbehrung und Schmerz in ihr schönes Gesicht gemeißelt hatten, Züge, die

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