Das Orakel der Seherin

gewesen ist. Teile der Schrift liegen auf dem Tisch inmitten des Raumes. James greift hektisch danach und betrachtet sie.
    Alle Farbe verschwindet aus seinem Gesicht.
    »Sie war hier«, sagt er. »Einige Teile des Papyrus fehlen. Andere sind zerrissen.«
    Seine Folgerung scheint logisch, doch ich kann keinen Hauch ihres Geruchs hier im Keller erkennen, was mich ziemlich verwirrt.
    »Sind Sie sicher, daß keine anderen Mitglieder Ihrer Gemeinschaft überlebt haben?«
    »Nur Dad und ich«, antwortet er.
    Ich halte ihn auf. »Gehen Sie nach oben und halten sie dort die Stellung. Ich werde derweil versuchen, die hier noch vorhandenen Teile der Schrift zu entziffern.«
    »Aber das hier ist kaum noch die Hälfte unseres ursprünglichen Textes.«
    Ich begreife, daß sich sein Leben in den letzten Jahren ausschließlich um dieses Dokument gedreht hat. Ich streiche ihm tröstend über den Rücken und schiebe ihn Richtung Treppe. Schließlich bin ich allein mit einem Teil des Puzzles, das mir bisher vorenthalten blieb. Und ich frage mich, was wohl fehlen mag.
    Der erste Abschnitt, den ich lese, handelt von dem Kind.
    Von allen bisherigen Herrschern wird derjenige, der am Ende jenes Jahrtausends geboren wird, der göttlichste sein. Er wird die Verspieltheit Sri Krishnas haben, die Weisheit Adi Shankaras und das Mitleid Jesu von Nazareth. Er wird all diese Götter sein, aber mehr noch: etwas, das die Menschheit noch nie zuvor gesehen hat.
    Er wird in einer Stadt geboren werden, die man mit verlorenen Engeln in Verbindung bringt, doch es werden dunkle Engel sein, die ihn und seine Mutter dazu zwingen, in den Spiegel des Himmels zu fliehen, wo die Schuhe sich ohne Füße bewegen und der smaragdene Kreis im Licht des Morgens zu sehen ist. Dort werden die dunklen Mächte ihn erneut bedrängen, doch ein mächtiger Engel wird ihn erneut retten – um ihn noch einmal zu verlieren.
    Dann wird der Ort des Heiligtums durch rote Sterne verunreinigt werden, und nur die Unschuldigen werden das blaue Licht des Himmels sehen. Der Glaube ist stärker als Stein. Alles andere ist ein Geheimnis.
    Der Krieg zwischen den Setianen und den Alten endet niemals. Ich bin Suzama aus alter Zeit. Sogar jetzt, während ich diese Worte aufschreibe, brennt die Mutter eines Engels unter den Sternen der Setiane. Ihr Schmerz ist mein Schmerz. Ich warte auf den Feind, auf den Splitter im Element der Erde und auf meinen eigenen Tod. Denn der Splitter wird zu einem Spalt führen, und die Zivilisation, wie wir sie jetzt kennen, wird ein Ende finden. Doch jedes Ende geht vorüber, und alles Leben wird vom Tode wiedergeboren. Ich bin Suzama, und ich fürchte weder dieses Ende noch den Verlust meines eigenen Lebens. Denn dieser Krieg aus alter Zeit dient sowohl den dunklen als auch den blauen Engeln. Beide sind göttlich vor meinem erleuchteten Auge, und alle Farbe wird vom Abgrund verschluckt werden.
    Es gibt noch ein anderes Papyrusstück, das entzweigerissen ist. Es ist dünner als die anderen und handelt von Kalika.
    Sie ist die Dunkle Mutter, die alles verschlingt und der niemand trauen darf.
    Sie bringt das Licht der roten Sterne, und eine Welle des roten Todes geht von ihr aus. Sie ist die Geißel des Kindes, nicht seine Beschützerin, wie sie zu sein behauptet. Ihr Name ist Kali Ma, und er verweist auf das Dunkle Zeitalter.
    Alle, die sie kennen, werden sie fürchten.
    »Suzama«, flüstere ich zitternd. »Du weißt nicht, wie du deine alte Freundin damit verfluchst.«
    Aber ist es wirklich von Bedeutung, was sie über meine Tochter sagt? Habe ich heute nacht nicht genug Beweise der dämonischen Natur meiner Tochter erhalten? Sie lachte, während sie tötete, und ohne Zweifel hat sie das Blut vieler ihrer Opfer getrunken, bevor sie diese zu Tode stieß. Suzama sagt mir nichts Neues über mein Kind.
    Aber was ist mit Paulas Baby? Wo ist dieser Spiegel am Himmel, in dem sich Schuhe ohne Füße bewegen und ein smaragdener Kreis im Morgenlicht zu sehen ist? Suzamas Prophezeiung ist wirklich rätselhaft, und ich bin nahe daran, meine alte Freundin zu verfluchen. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, sind weitere Rätsel und all dieses Gerede über dunkle und verlorene Engel. Noch schlimmer ist Suzamas Erwähnung der Setiane. Sie wurden zerstört, als Suzama getötet wurde: damals im großen Erdbeben im alten Ägypten. Warum spricht sie weiterhin von diesem Krieg? Soweit ich weiß, ist er längst vorbei.
    »Ich werde hier auf dich warten. Ich werde dasein, wenn du