Das Orakel der Seherin
hatte mir eben mitgeteilt, daß sie noch immer meine Freundin war.
Es war bald nach dieser Nacht, als sie begann, andere Menschen zu heilen.
Die Heilungen begannen auf eine sozusagen unschuldige Weise. Suzama sammelte oft und gern Kräuter. Sogar schon als Kind hatte sie intuitiv gewußt, welches Kraut gegen welche Krankheit wirkte. So war es normal, daß jeden Tag kränkelnde Menschen zu ihr kamen, um sich bei ihr medizinischen Rat zu holen. Manchmal veranlaßte Suzama auch, daß ein Kranker bei ihr blieb. Sie ließ den oder die Kranke dann auf dem Rücken liegen und lang und tief einatmen, während sie selbst die linke Hand auf die Stirn und die rechte auf das Herz der Hilfesuchenden legte. Diese fühlten sich danach stets besser, oder zumindest sagten sie das.
Dann kam eines Tages ein verkrüppelter Mann zu ihr. Er konnte nicht mehr gehen, seitdem vor fünf Jahren ein riesiger Stein auf seine Hüften gefallen war.
Von der Taille abwärts hatte er kein Gefühl mehr im Körper. Zuerst verordnete sie ihm einige Kräuter. Sie wollte ihn gerade wegschicken, als der Mann sie bat, ihn zu segnen. Widerstrebend, ganz so, als ob sie wußte, daß dieser Akt ihr Leben für immer verändern würde, ließ Suzama ihn sich auf den Boden legen und forderte ihn auf, tief durchzuatmen. Ihre Hände zitterten, als sie sie über den Mann hielt, und Schweiß trat auf ihr Gesicht. Ich konnte meine Augen nicht von ihr abwenden. Eine Art weißer Schein schwebte um ihren Kopf. Sogar als die Unterschenkel des Mannes zu zucken begannen, sah ich weiterhin Suzamas engelsgleiches Gesicht an. Es war, als ob die Sterne des Himmels selbst aus ihr leuchteten.
Der Mann konnte den Weg zurück nach Hause gehen.
Danach gab es stets Menschenschlangen vor Suzamas Haus. Sie fuhr damit fort, Leute zu heilen, doch nur wenige Heilungen waren so sensationell wie die des verkrüppelten Mannes. Vielen ernsthaft Kranken konnte sie nicht helfen. Es ist ihr Karina, krank zu sein, pflegte sie zu sagen. Zu der Zeit kannte man in diesem Teil der Welt das Wort Karma schon, und man verstand seine Bedeutung.
Doch Suzama heilte nicht nur. Noch lieber sagte sie die Zukunft voraus und lehrte meditieren. Eine Reihe spezieller Meditationstechniken hatte sie durch Visionen erfahren, und jede von ihnen stand in Beziehung zur Verehrung der Göttin Isis, der Weißen Göttin. Suzama lehrte Mantra und Atemtechniken, und manchmal verband sie beides. Ich war ihre erste Schülerin und auch ihre letzte.
Während ich die Übungen durchführte, die sie mir zeigte, lernte ich innere Ruhe kennen. Sie war sowohl mein Guru als auch meine Freundin, und ich fühlte mich stets tief in ihrer Schuld.
Es sollte die Zeit kommen, in der auch die Herrscher des Landes von Suzamas Fähigkeiten erfuhren. Der König, der damals das Land regierte, hieß Namok und seine Königin Delar. Namok war vierzig Jahre älter als seine Frau, und laut der Gerüchte, die umgingen, waren sie beide unterschiedlichen Glaubens.
Namok stand fest hinter der machtvollen Kaste der Priester jener Zeit, den sagenumwobenen Setiane, von denen es hieß, daß sie sowohl aus der Vergangenheit als auch durch die Konstellationen am Himmel göttliche Einsichten gewönnen. Die Setiane verehrten eine Anzahl reichlich wütend aussehender Götter, bei denen es sich ausnahmslos um Reptilien handelte. Ich war damals neugierig, warum Isis dem Osiris vermählt werden sollte, der Sets Bruder war. Es konnte keine unterschiedlicheren Götter geben. Die Setiane waren gegen die Verehrung der Isis und wollten sie zerstören. Aus diesem Grunde führte Suzama ihre Initiationsriten stets im geheimen durch.
Doch das Geheimnis war keines mehr, als Suzamas Fähigkeit der Weissagung bekannt wurde. Sie wurde zur großen Pyramide beordert, und ich als ihre engste Freundin durfte sie begleiten. Tatsächlich weigerte Suzama sich sogar, ohne mich zu gehen. Zu der Zeit wußte sie schon von meiner großen körperlichen Kraft und fühlte sich an meiner Seite sicherer.
Offenbar hatte Königin Delar einen Traum gehabt, den die setianischen Priester und Priesterinnen nicht zu ihrer Zufriedenheit deuten konnten. Delar wünschte, daß sich Suzama in der Deutung versuche. Zusammen wurden wir in das königliche Empfangszimmer geschoben. Der Reichtum, den wir hier sahen, war atemberaubend. Niemals wieder, auch im sogenannten goldenen Zeitalter, sollte Ägypten so prosperieren. Der Boden, über den wir gingen, war aus purem Gold.
Sowohl der König als auch die
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