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Das Orakel der Seherin

Das Orakel der Seherin

Titel: Das Orakel der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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und läßt sich mir gegenüber nieder.
    »Nein, danke.« Ich zögere. »Sie scheinen nicht erstaunt, mich wiederzusehen.«
    Ihr Gesicht verzieht sich vor Schmerz, als sie an ihren toten Sohn erinnert wird. Es sind nicht die Tragödien, die uns zerstören, sondern es ist unsere Erinnerung daran. Es vergeht ohne Zweifel keine Minute, in der sie nicht an Eric denkt.
    »Ich habe mir schon gedacht, daß ich Sie noch einmal wiedersehen würde«, sagt sie.
    »Warum?«
    »In der Nacht damals sind Sie bei uns hereingeflattert wie ein Vogel und genauso wieder hinaus. Mein Mann und ich haben seitdem viel darüber gesprochen.« Ein trauriges Lächeln gleitet über ihr Gesicht. »Ich glaube, wir sind nun überzeugt, daß Sie kein Teufel waren, sondern ein Engel.«
    »Leider bin ich das nicht. Es tut mir leid, daß ich nicht in der Lage war, Ihren Sohn zu retten.«
    Einen Augenblick lang hört sie auf, ihre Hände zu kneten. »Sie haben es wirklich versucht, nicht wahr?«
    »Ja.« Ich senke den Kopf. »Ich habe alles versucht, was mir möglich war.«
    Sie nickt schweigend. »Das habe ich auch meinem Mann gesagt. Zuerst hat er Ihnen nicht geglaubt, aber vielleicht tut er es jetzt.« Sie verstummt. »Sind Sie sicher, daß ich Ihnen nichts anbieten kann? Ich habe Schokoladenkekse gebacken. Eric hat sie so gern gegessen.«
    Ich blicke lächelnd auf. »Ja, ich hätte gern einen Keks.«
    Sie erhebt sich. »Ich habe auch Milch da. Erst mit Milch schmecken Kekse richtig gut.«
    »Da haben Sie recht.« Ich sitze da und spüre ihren Schmerz, während sie in der Küche hantiert. Seit meiner Wiedergeburt spüre ich die Gefühle sehr viel stärker, die an einem Ort vorherrschen. Der Hocker, auf dem ich sitze, wirkt auf mich wie ein elektrischer Stuhl. Es ist normalerweise Mr. Hawkins’ Platz, das spüre ich. Als ich die Familie das letztemal besucht habe, wollte er mich daran hindern, das Haus wieder zu verlassen. Er war drauf und dran, die Cops zu rufen.
    Doch ich spüre nicht nur, ich rieche auch etwas, während ich darauf warte, daß Mrs. Hawkins zurückkommt.
    Den dumpfen Geruch von Krankheit. Einem Menschen würde er nicht auffallen, aber mir entgeht er nicht.
    Dann kommt Mrs. Hawkins mit einem Teller Kekse und einem Glas Milch herein.
    »Sie dürfen nicht nur ein Plätzchen essen«, sagt sie, während sie den Teller vor mich hinstellt. »Eric und mein Mann haben das ganze Blech immer an einem Nachmittag verputzt. Aber jetzt, wo Eric nicht mehr da ist, und mein …
    Nun, Ted hat jetzt nicht mehr soviel Appetit wie früher.«
    Ich nehme ein Plätzchen. »Ich werde mindestens zwei essen.«
    Sie läßt sich mir gegenüber nieder. »Sie haben uns damals Ihren Namen gar nicht gesagt, meine Liebe. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde ihn nicht der Polizei geben. Ich würde nur gern wissen, wie ich Sie anreden soll.«
    »Alisa.«
    »Woher kommen Sie, Alisa?«
    »Von vielerlei Orten.« Ich trinke von der Milch, die zum Glück sehr kalt ist.
    Ich schiebe die Fragen auf, obwohl ich weiß, daß ich nicht umhin kann, sie zu stellen.
    »Ich werde das College ein Jahr aussetzen, aber dann werde ich wieder zur Schule gehen. Ich weiß, daß meine Chancen gut sind, einen Studienplatz in Medizin zu bekommen.«
    »Wie schmecken Ihnen die Kekse?« fragt sie.
    »Sehr gut.« Doch dann lasse ich das Plätzchen sinken, noch bevor ich es halb gegessen habe. »Mrs. Hawkins, darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen? Es geht um Eric.«
    Sie zögert. »Was wollen Sie wissen?«
    »Ihr Sohn wollte Arzt werden. Er sagte, daß er in die Fußstapfen seines Vaters treten wolle. Ich habe Ihren Mann kennengelernt, und er wirkte auf mich wie ein sehr engagierter, fast besessener Mensch. Eric schien mir nicht so besessen, doch ich kann mir vorstellen, daß auch er in seinen Absichten sehr engagiert war.«
    »Das stimmt«, bestätigt sie.
    »Sehen Sie, das hier ist auch für mich nicht einfach. Ich möchte Ihren Schmerz nicht aufrühren, und ich entschuldige mich dafür, falls ich es doch tue.
    Doch ich frage mich, warum Eric, der doch unbedingt Arzt werden wollte, vorhatte, das College ein Jahr auszusetzen. Ich weiß, daß so etwas nicht absolut außergewöhnlich ist«, erkläre ich, »aber ich frage mich, ob es nicht einen besonderen Grund gab für diese verlängerten Ferien.«
    Einen Augenblick lang starrt sie ins Leere. »Ja.«
    »Darf ich ihn erfahren?«
    Eine Träne rinnt langsam ihre Wange hinab. »Eric hatte Krebs.
    Lymphdrüsenkrebs. Er hatte sich schon

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