Das Orakel des Todes
in der rechten Stimmung, das herrliche Panorama vor meinen Augen zu genießen, aber meine Position sollte zumindest etwaige Bogenschützen auf Distanz halten. Um auf Nummer Sicher zu gehen, hatte ich auf der Spitze des Apollotempels einen Beobachtungsposten stationiert. Wegen seiner außergewöhnlich guten Augen war meine Wahl auf den jungen Vespillo gefallen.
Ich saß nicht etwa untätig herum, sondern begann meine Argumente niederzuschreiben und eine Liste meiner bis lang gefundenen Beweise zusammenzustellen. Außerdem fasste ich den Ablauf der Ereignisse chronologisch zusammen. Diese Aufzeichnungen liegen mir heute übrigens vor und waren mir bei der Niederschrift dieses Berichts eine, große Hilfe - es zahlt sich eben aus, alte Papiere aufzubewahren. Dann bereitete ich unter Berücksichtigung dessen, was ich von Cicero gelernt hatte, meine Rede vor, wobei ich es nicht versäumte, gelegentlich geeignete Zitate aus bekannten Dichtungen und ähnliche Versatzstücke einzuflechten, und auch vor Rufmord schreckte ich nicht zurück. Mir war völlig klar, dass ich nicht alles zum Besten geben konnte, was ich mir notierte, aber es half mir, meine Gedanken zu ordnen.
Gegen Mittag des nächsten Tages erschien Cordus. Er wurde von einem etwa fünfunddreißig Jahre alten Mann begleitet, der eine schmuddelige, dunkle Toga trug und unrasiert war. Eskortiert von meinen Wachen, ging ich auf die beiden zu und begrüßte sie. „Ich glaube, ich habe gefunden, wonach du suchst, Praetor“, sagte der Geschichtsschreiber. „Dies ist der ehrwürdige Lucius Pedarius.“ Offenbar war „ehrwürdig“ das Wort, das die Einheimischen benutzten, wenn von echten Patriziern die Rede war. Seiner Kleidung und seinem äußeren Erscheinungsbild nach zu urteilen, machte die Familie wirklich harte Zeiten durch.
„Pedarius?“, hakte ich nach. „Ich habe mich schon gefragt, wann sich wohl ein Mitglied deiner Familie bemüßigt sähe, mir seine Aufwartung zu machen.“
„Ich bitte um Entschuldigung, Praetor. Wir sind zur Zeit in Trauer um meinen Vater.“ Sein Latein war einwandfrei. Ein Trauerfall erklärte auch die schmuddelige Toga, den Bart und das verfilzte Haar. Offenbar nahmen die Pedarii die altmodischen Trauerbräuche noch ernst. In Rom liehen wir uns normalerweise einfach eine alte Toga von einem Freigelassenen, ließen uns ein paar Bartstoppeln sprießen und gingen nicht zum Friseur; auf einen Kamm verzichteten wir allerdings nicht.
„Verstehe. Warum leistet ihr mir nicht beim Mittagessen ein wenig Gesellschaft?“
Ich ließ Julia ausrichten, dass wir einen Patrizier zu Gast hatten, denn ich wusste, dass sie einen solchen Besuch auf keinen Fall verpassen wollte. Kurz darauf gesellte sie sich mit einer kleinen Gefolgschaft ihrer Sklavinnen zu uns, begrüßte Pedarius und Cordus und arrangierte dann ein informelles Mittagessen, bei dem diesmal auch den Wachen ein dezenter Platz zugewiesen wurde. Pedarius nahm diese Sicherheitsvorkehrungen mit einiger Besorgnis zur Kenntnis, was ich ihm nicht verübeln konnte. Normalerweise gleicht ein Mittagessen mit dem Praetor ja auch nicht einem Besuch an der Front.
„Dann stimmt es also, Praetor, dass dein Leben in Gefahr ist?“, fragte er.
„In dieser Gegend ist zurzeit jeder in Gefahr“, entgegnete ich. „Es überrascht mich eher, dich lebendig zu sehen. Hier, koste mal von diesem geräucherten Schinken. Er schmeckt exzellent.“
„Meinst du das ernst? Ich meine nicht den Schinken, sondern dass du dich wunderst, dass ich noch lebe. Bin ich etwa in Gefahr?“
„Ich meine es so ernst, wie das hier Geschehene den Göttern missfällt“, erwiderte ich. „Kannst du mich jetzt darüber in Kenntnis setzen, wie dein Vater zu Tode gekommen ist?“
Julia schaltete sich ein. „Musst du dieses Thema unbedingt beim Essen ansprechen? Für die Besprechung ernster Dinge ist doch anschließend ausreichend Zeit.“
„Zeit ist genau das, was allmählich knapp wird“, widersprach ich. „Bitte entschuldigt meine Unhöflichkeit, aber in dieser Angelegenheit geht es buchstäblich um Leben und Tod. Gab es an den Umständen, unter denen dein Vater gestorben ist, irgendetwas Verdächtiges, Lucius Pedarius?“
„Nun ja, mein Vater war nicht mehr der jüngste, er wäre in diesem Jahr sechsundfünfzig geworden, aber er war noch kräftig und gesund. Wenn er nicht mit der Beaufsichtigung unserer Ländereien zu tun hatte, ritt und jagte er fast jeden Tag. Vor etwa drei Monaten fing er an, über
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