Das Orakel des Todes
genommen sind die berühmtesten Orakel, also das von Delphi, Cumae, Dodona und so weiter, Apollo unterstellt. Ob das am Ende zum Streit zwischen den beiden Kulten geführt hat? Vielleicht werfen die Apollo-Verehrer den Verehrern der Hekate vor, dass ihre Göttin die Aufgaben Apollos übernommen hat.“
„Vielleicht haben sich die Anhänger der Hekate auch zunutze gemacht, dass die Einheimischen die Namen der beiden Götter verwechselt haben?“, fügte Julia hinzu.
Cordus nickte. „Durchaus möglich.“
„Aber diesen Streit zwischen den beiden Tempeln gibt es doch schon seit Jahrhunderten. Warum wurden die Morde ausgerechnet jetzt begangen?“
„Das ist genau die Frage“, pflichtete ich ihr bei. „Und sie veranlasst mich zu der Vermutung, dass diese Morde wenig oder gar nichts mit dem alten Streit zu tun haben. Ich glaube vielmehr, dass irgendein heutiger, gewöhnlicher Zwist dahinter steckt, der einen ganz profanen Hintergrund hat, zum Beispiel Geld.“
„ Das wäre aber enttäuschend.“ Julia klang beinahe so, als wäre sie um ein versprochenes Vergnügen gebracht.
„Wir haben es schon mit etlichen Morden zu tun gehabt“, erinnerte ich sie. „Steckte auch nur bei einem einzigen ein hehres Motiv dahinter? Nein, es geht immer um Politik, Macht, Eifersucht, Kränkung der eigenen Ehre oder schlicht um Geld. Meistens geht es um Geld. Männer schätzen ihre eigene Ehre oder die Keuschheit ihrer Frauen selten höher als ihre Geldbörse.“
„Mein Mann ist ein Kyniker, falls man überhaupt so weit gehen kann, ihm eine Lebensanschauung zuzuschreiben“, kommentierte Julia.
„ Die menschlichen Beweggründe in Frage zu stellen, gehört zu den Grundgedanken der kynischen Philosophie“, erklärte Gitiadas. „Oder, besser gesagt, die vorgeblichen Beweggründe. Laut Diogenes kann man sicher sein, dass ein Mann, der behauptet, etwas aus Ehre, Patriotismus, Liebe zu seinem Nächsten oder einem anderen edlen Grund zu tun, in Wahrheit von niederen und schäbigen Beweggründen getrieben wird. Dies ist eine durchaus respektable philosophische Prämisse, und je älter ich werde, desto überzeugter bin ich, dass sie richtig ist.“
„So ist es leider“, stimmte auch Cordus zu.
„Ihr denkt so, weil ihr Männer seid. Männer werden zwar mit dem Alter weiser, aber sie benehmen sich ihr ganzes Leben lang wie kleine Jungen.“
„Meine Frau ist keine Bewunderin des männlichen Geschlechts“, erklärte ich meinen Gästen. „Ihr Onkel Caius ~ Julius natürlich ausgenommen.“
„Bei solchen Männern muss man immer eine Ausnahnen machen“, stellte Gitiadas grinsend fest.
„Mein Mann hegt ein unbegründetes Misstrauen gegenüber Caesar. Er unterstellt ihm, wie Sulla diktatorische Absichten zu hegen. Das ist natürlich Unsinn. Und das Diogenes-Beispiel ist eine hinterhältige Art, die Integrität eines großen Mannes in Frage zu stellen.“
Wir kamen vom Thema ab und betraten gefährliches Ge lände. „Um noch einmal auf den Tempel und die ermordeten Priester zu sprechen zu kommen - da ist noch die Sache mit dem Mädchen, dieser Hypatia. Für mich steht fest, dass sie umgebracht wurde, weil sie irgendeine Rolle bei der Ermordung der Priester gespielt hat. Sie wurde instruiert, mir mitzuteilen, was sie mir erzählt hat, doch jemand muss gefürchtet haben, dass sie mir womöglich mehr erzählt und hat sie deshalb zum Schweigen gebracht.“
„Was sie wohl wusste?“, fragte Julia.
„Auf jeden Fall kannte sie ihren Mörder“, stellte ich fest, „der sie vermutlich auch zur Beteiligung an der Ermordung der Priester angestiftet hat. Offenbar war es jemand, den, sie vertraute.“
„Vielleicht ein Liebhaber“, mutmaßte Julia. „Immerhin war sie schwanger.“ Das war unseren Gästen neu, und Julia berichtete ihnen, was sie herausgefunden hatte.
„Dadurch erhält das Ganze eine ganz neue Dimension“, stellte Gitiadas fest. „In dem Fall kommen auch Eifersucht, Liebe, Verrat, Enttäuschung und jede Menge anderer Motive in Frage. Ihr hättet den Dramatiker einladen sollen. Was Herzensangelegenheiten angeht, kennt er sich mit Sicherheit besser aus als verstaubte Philosophen und Historiker.“
„Noch eine Komplikation“, stöhnte ich. „Als ob diese Geschichte nicht schon verzwickt genug wäre.“
Kapitel VI
Am nächsten Tag zog ich mit meinem mobilen Gericht nach Stabiae, eine weitere jener bezaubernden, in der Bucht gelegenen Städte, die mit einem herrlichen Klima gesegnet sind und Blicke bieten, die
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