Das Orakel vom Berge
etwas glauben«, sagte Mr. Tagomi.
»Wir selbst kennen die Antwort nicht. Und alleine können wir auch nicht in die Zukunft sehen.«
Mr. Baynes nickte.
»Meine Frau hat vielleicht etwas für Ihren Kopf«, sagte Mr. Tagomi, als Baynes die Brille abnahm und sich die Stirn rieb. »Ihre Augenmuskeln verursachen Ihnen Schmerz. Entschuldigen Sie mich bitte.«
Er verbeugte sich und ging aus dem Zimmer.
Was ich brauche, ist Schlaf, dachte Baynes. Oder komme ich mit der Situation hier nicht zurecht?
Als Tagomi mit einem Glas Wasser und einer Pille zurückkam, sagte Baynes: »Ich werde jetzt wirklich ›Gute Nacht‹ sagen und in mein Hotel gehen. Aber zuerst möchte ich etwas wissen. Wir können ja morgen weiter darüber sprechen, wenn es Ihnen recht ist. Hat man Ihnen gesagt, daß eine dritte Person an unserem Gespräch teilnehmen möchte?«
Einen Augenblick zeigte Mr. Tagomis Gesicht Überraschung. Dann blickte er wieder gleichgültig. »Ich habe nichts in diesem Sinne gehört. Aber – es ist natürlich interessant.«
»Von den Heimatinseln.«
»Ah«, sagte Mr. Tagomi. Und diesmal war überhaupt keine Überraschung mehr sichtbar.
Er hatte sich völlig unter Kontrolle.
»Ein älterer, schon pensionierter Geschäftsmann«, sagte Mr. Baynes. »Er reist per Schiff. Er ist jetzt schon seit zwei Wochen unterwegs. Er hat ein Vorurteil gegen Luftreisen.«
»Alte Leute sind manchmal eigenartig«, sagte Mr. Tagomi.
»Er ist über die Märkte auf den Heimatinseln informiert. Er wird uns Informationen geben können und hatte ohnehin vor, in San Francisco einen Urlaub zu verbringen. Es ist nicht sehr wichtig. Aber wir können auf diese Weise bei unseren Gesprächen mehr ins Detail gehen.«
»Ja«, sagte Mr. Tagomi. »Er kann Fehler korrigieren, die hinsichtlich des Heimatmarktes auftreten können. Ich bin seit zwei Jahren weg.«
»Wollten Sie mir nicht die Pille geben?«
Mr. Tagomi zuckte zusammen und sah, daß er immer noch das Glas und die Pille hielt. »Entschuldigen Sie. Das ist etwas sehr Starkes. Man nennt es Zarakain. Eine Arzneimittelfirma im Distrikt China fertigt sie.«
»Dieser alte Herr«, sagte Mr. Baynes, während er sich anschickte, die Pille zu nehmen, »wird wahrscheinlich direkt mit Ihrer Handelsmission in Verbindung treten. Ich werde seinen Namen aufschreiben, damit Ihre Leute wissen, daß sie ihn nicht wegschicken sollen. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber so weit mir bekannt ist, ist er halb taub und etwas exzentrisch. Wir wollen sichergehen, daß man ihn nicht – falsch behandelt.« Mr. Tagomi schien zu begreifen. »Er liebt Rhododendron. Sie würden ihm eine besondere Freude bereiten, wenn sich jemand vielleicht eine halbe Stunde mit ihm über Rhododendron unterhalten würde, während wir unsere Besprechung vorbereiten. Ich schreibe Ihnen jetzt seinen Namen auf.«
Er nahm seine Pille und schrieb dann.
»Mr. Shinjiro Yatabe«, las Mr. Tagomi und nahm das Blatt Papier, das er pflichtschuldig in seine Brieftasche steckte.
»Noch etwas.«
Mr. Tagomi nippte sacht an seiner Tasse, lauschte.
»Eine delikate Kleinigkeit. Der alte Herr – es ist peinlich. Er ist beinahe achtzig. Einige seiner Unternehmungen gegen Ende seiner Laufbahn waren nicht erfolgreich. Verstehen Sie?«
»Er ist also nicht mehr wohlhabend«, sagte Mr. Tagomi. »Wahrscheinlich bezieht er eine Pension.«
»Das ist es. Und die Pension ist sehr bescheiden. Er bessert sie daher gelegentlich auf.«
»Eine Verletzung einer unwichtigen Vorschrift«, sagte Mr. Tagomi. »Unsere Regierung zu Hause und ihre kleinlichen Beamten. Ich verstehe schon. Der alte Herr erhält für seine Beratung von uns ein Honorar und meldet es seiner Pensionskasse nicht. Also dürfen wir seinen Besuch nicht bekanntwerden lassen. Man weiß nur, daß er Urlaub macht.«
»Sie sind sehr verständnisvoll«, sagte Mr. Baynes.
»Es ist nicht das erste Mal, daß sich diese Lage ergibt«, meinte Mr. Tagomi. »Wir haben in unserer Gesellschaft das Problem der Alten nicht gelöst. Je mehr Fortschritte die Medizin macht, desto mehr alte Leute gibt’s. China lehrt uns, die Alten zu ehren. Die Deutschen andererseits lassen die Vernachlässigung der Alten schon beinahe als Tugend erscheinen. Wie ich höre, ermorden sie ihre alten Leute.«
»Die Deutschen«, murmelte Baynes und rieb sich wieder über die Stirn. Begann die Pille bereits zu wirken? Er fühlte sich etwas benommen.
»Sie kommen aus Skandinavien und haben bestimmt viele Verbindungen mit der Festung
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