Das Orakel vom Berge
erkundigen, gleich wenn er kommt.
Seine Sprechanlage summte.
»Nein«, sagte er unfreundlich. »Keine Unterhaltung. Das ist der Augenblick der inneren Wahrheit. Selbstbetrachtung.«
Und aus dem winzigen Lautsprecher Mr. Ramseys Stimme: »Sir, wir haben es gerade von der Presseagentur drunten gehört. Der Reichskanzler ist tot. Martin Bormann.« Ramseys Stimme verstummte. Schweigen.
Und Mr. Tagomi dachte, alle Verabredungen für heute absagen. Er stand auf und ging schnell auf und ab, drückte die Hände gegeneinander. Mal sehen, ich muß sofort einen formellen Brief an den Reichskonsul schicken. Kleinigkeit; kann ein Untergebener erledigen. Tiefe Sorge, und so weiter und so weiter. Ganz Japan empfindet in dieser Stunde der Trauer tiefes Mitgefühl mit dem deutschen Volk… und dann? Warten. Warten, welche Informationen aus Tokio kamen.
Er drückte den Knopf der Sprechanlage und sagte: »Mr. Ramsey, stellen Sie sicher, daß wir in Verbindung mit Tokio sind. Sagen Sie es den Mädchen in der Zentrale. Es darf uns nichts entgehen.«
»Ja, Sir«, sagte Mr. Ramsey.
»Ich bin von jetzt an in meinem Büro. Halten Sie mir alle Routinegeschäfte fern und schicken Sie alle Besucher weg, die nur in den üblichen Angelegenheiten kommen.«
»Sir?«
»Ich muß die Hände freihaben, falls plötzlich etwas getan werden muß.«
»Ja, Sir.«
Eine halbe Stunde später, um neun, kam eine Botschaft von dem höchsten Beamten der Kaiserlichen Regierung an der Westküste, dem japanischen Botschafter in den Pazifikstaaten Amerikas, dem ehrenwerten Baron L. B. Kaelemakule. Das Außenministerium hatte eine außerordentliche Sitzung im Botschaftsgebäude an der Sutterstreet einberufen, und jede Handelsmission sollte eine Person hohen Ranges zur Teilnahme schicken. Dies bedeutete in diesem Fall Mr. Tagomi selbst.
Es war keine Zeit, sich umzuziehen. Mr. Tagomi eilte zu einem Expreßlift, fuhr ins Erdgeschoß und saß zwei Sekunden später in der Missionslimousine, einem schwarzen Cadillac, Baujahr 1940, den ein geübter uniformierter chinesischer Chauffeur steuerte.
Rings um das Botschaftsgebäude parkten die Wagen anderer Würdenträger, insgesamt ein Dutzend. Personen von hohem Rang, von denen er einige kannte und von denen einige andere ihm fremd waren, eilten die breite Freitreppe der Botschaft hinauf. Mr. Tagomis Chauffeur hielt ihm die Tür auf, und er stieg aus und griff nach seinem Aktenkoffer. Er war leer, weil er keine Papiere bringen mußte – aber es war wichtig, den Anschein zu erwecken, als wäre er nicht bloß ein Zuschauer. Er schritt schnell die Treppe hinauf, bemüht, dabei den Eindruck zu erwecken, als spiele er eine wichtige Rolle bei den Vorgängen, obwohl man ihm nie gesagt hatte, worum es in dieser Sitzung gehen sollte.
Einige Personen hatten sich versammelt, und im Vestibül hörte er gemurmelte Gespräche. Mr. Tagomi trat zu einigen Herren, die er kannte, nickte mit dem Kopf und blickte – ebenso wie sie – würdig und feierlich.
Ein Botschaftsangestellter erschien und wies sie in eine große Halle. Stühle waren aufgebaut. Man nahm Platz.
An der Stirnseite des Raumes schritt ein Herr mit einer Handvoll Papier auf ein Rednerpult zu. Gestreifte Hosen: ein Vertreter des Außenministeriums.
Verwirrung. Zusammengesteckte Köpfe.
»Meine Herren«, sagte der Mann vom Außenministerium mit lauter, befehlsgewohnter Stimme. Alle Augen richteten sich auf ihn. »Wie Sie wissen, ist der Tod des Reichskanzlers jetzt bestätigt worden. Offizielle Verlautbarung aus Berlin. Diese Sitzung, die nicht lange dauern wird – Sie werden bald in Ihre Büros zurückgehen können –, hat den Zweck, Sie mit unserer Beurteilung der Lage in Deutschland vertraut zu machen. Wir wollen Sie darüber informieren, wie die einzelnen miteinander in Wettbewerb stehenden Parteien und Gruppierungen im politischen Leben Deutschlands jetzt in den Kampf um den durch Herrn Bormanns Tod freigewordenen Platz eintreten werden.
Zuerst die Notabeln. Der wichtigste: Hermann Göring. Ich bitte um Ihre Geduld für ein paar wohlbekannte Einzelheiten. Der Dicke, seines Körperumfangs wegen so genannt, ursprünglich Luftheld im ersten Weltkrieg, Gründer der Gestapo und mächtiger Mann in der preußischen Regierung. Einer der skrupellosesten frühen Nazis, dessen spätere Ausschweifungen das durch und durch irreführende Bild eines reinen Genießers entstehen ließen, vor dem Sie unsere Regierung jedoch dringend warnt. Obwohl die Rede geht, daß dieser
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