Das Orakel vom Berge
Eingeborenensage – oder die Wahrheit?
Ich muß meine Gedanken ablenken. Irgendein unverfängliches Thema finden. Seine Augen schweiften im Räume. Schwer lastete Schweigen auf ihnen, machte seine Spannung unerträglich. Was zum Teufel sollte er sagen? Irgend etwas Ungefährliches. Sein Blick erfaßte ein Buch auf einem niedrigen schwarzen Regal.
»Ich sehe, Sie lesen Schwer liegt die Heuschrecke «, sagte er. »Über das Buch wird viel geredet. Ich habe mich selbst noch nicht darum kümmern können.« Er stand auf, griff nach dem Buch und versuchte gleichzeitig, ihren Gesichtsausdruck zu überprüfen. Sie schienen seine gesellschaftliche Geste zu akzeptieren, und so redete er weiter: »Ein Kriminalroman? Entschuldigen Sie meine Unwissenheit.«
Er blätterte darin. »Kein Kriminalroman«, sagte Paul. »Im Gegenteil. Eine sehr interessante zeitkritische Form des Romans. Man könnte es Science Fiction nennen.«
»O nein«, widersprach Betty. »Es spielt ja nicht in der Zukunft. Die Science Fiction befaßt sich mit der Zukunft, insbesondere mit den technischen Fortschritten in der Zukunft.«
»Aber«, wandte Paul ein, »Science Fiction befaßt sich auch mit Alternativwelten der Gegenwart.« Und zu Robert gewandt, setzte er hinzu: »Entschuldigen Sie, daß ich darauf so herumreite, aber meine Frau weiß ganz genau, daß ich lange Zeit von Science Fiction nicht begeistert war. Ich habe schon als Zwölfjähriger damit angefangen. In den ersten Tagen des Krieges.«
»Aha«, meinte Robert Childan höflich.
»Wollen Sie sich die Heuschrecke ausleihen?« fragte Paul. »Wir sind bald fertig, ein oder zwei Tage vielleicht noch. Mein Büro ist ja in der Innenstadt, nicht weit von Ihrem geschätzten Laden – dann könnte ich es Ihnen leicht einmal mittags vorbeibringen.« Er verstummte und fuhr dann – vielleicht auf ein Zeichen von Betty hin – fort: »Wir könnten dann ja gemeinsam zu Mittag essen, Robert.«
»Vielen Dank«, sagte Robert. Mehr brachte er nicht heraus. In einem der feudalen Lokale zu Mittag essen. Er und dieser moderne junge Japaner von hohem Rang. Das war zuviel: Er spürte, wie sein Blick verschwamm. Aber er blätterte weiter in dem Buch.
»Ja«, meinte er dann, »das sieht sehr interessant aus. Ich würde es wirklich gerne lesen. Ich bleibe immer gerne auf dem laufenden.« War das richtig gewesen, das zu sagen? Zuzugeben, daß sein Interesse nicht dem Buche selbst, sondern seinem Ruf galt?
Vielleicht war das ein Zeichen von niedrigem Rang. Er wußte es nicht und hatte doch das sichere Gefühl, daß es so war. »Man kann nicht danach urteilen, daß das Buch ein Bestseller ist«, sagte er. »Das wissen wir alle. Viele Bestseller sind schrecklicher Mist. Das freilich…« Er wußte nicht weiter.
Betty kam ihm zu Hilfe. »Wie wahr. Der Durchschnittsgeschmack ist wirklich armselig.«
»Wie in der Musik«, sagte Paul. »Niemand interessiert sich beispielsweise für authentischen amerikanischen Jazz. Robert, mögen Sie Bunk Johnson und Kid Ory und dergleichen? Frühen Dixielandjazz? Ich habe eine Plattenbibliothek dieser alten Musik, original Genetaufnahmen.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht viel von Negermusik«, sagte Robert. Seine Bemerkung schien ihnen nicht sonderlich zugesagt zu haben. »Ich ziehe klassische Musik vor. Bach und Beethoven.« Das war ohne Zweifel akzeptabel. Jetzt war er fast ein wenig beleidigt. Sollte er etwa die großen Meister der europäischen Musik verleugnen und diesen zeitlosen Klassikern den Jazz aus New Orleans vorziehen?
»Vielleicht könnte ich eine Auswahl der New Orleans Rhythm Kings spielen«, fing Paul an und wollte das Zimmer verlassen, aber Betty warf ihm einen warnenden Blick zu. Er zögerte, zuckte die Achseln.
»Das Essen ist fast fertig«, sagte sie.
Paul kehrte zurück und setzte sich wieder. Es klang fast ein wenig mürrisch, fand Robert, als er murmelte: »Jazz aus New Orleans ist die echteste amerikanische Volksmusik, die es gibt. Sie hat ihren Ursprung auf diesem Kontinent. Alles andere kam aus Europa, so wie diese albernen, lauten Balladen im englischen Stil.«
»Darüber streiten wir uns die ganze Zeit«, sagte Betty und lächelte Robert zu. »Ich kann mich seiner Liebe für Jazz einfach nicht anschließen.«
Robert hielt immer noch das Buch in der Hand. »Mit was für einer Alternativwelt befaßt sich dieses Buch denn?«
Betty schien einen Augenblick zu überlegen. »Eine, in der Deutschland und Japan den Krieg verloren haben.«
Alle waren
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