Das Orakel von Antara
anfänglichem Misstrauen freundlich aufgenommen worden. Doch Yorn hatte gezögert, sein Geheimnis zu offenbaren. Er fühlte, dass die Zeit noch nicht gekommen war, den Schleier über seiner Herkunft zu lüften. Zuerst wollte er zu den Nivedern gelangen. In der letzten Ansiedlung hatte man ihnen den Weg dorthin beschrieben. Nach Waskors Tod hatten die Reste des nivedischen Stammes ihre zerstörten Siedlungen verlassen und waren tiefer in die Berge gezogen. Das schwer zugängliche Gebiet bot ihnen Schutz vor weiteren Übergriffen der Moradonen.
Wie man Yorn und Reven berichtete, war der Stamm in der Verschwiegenheit der Berge in den vergangenen zwanzig Jahren wieder zahlreicher geworden, teils durch eigene Nac hkommen, teils durch Flüchtlinge anderer Ansiedlungen, die ebenfalls von den Moradonen aufgerieben worden waren. Über all die Jahre schwelte der Gedanke an Vergeltung in den Antaren, doch es fehlte ein Führer wie Waskor, der die verstreuten Stämme hätte vereinen und gegen die Feinde führen können.
Nur noch die Niveder hatten die Erinnerung an den Seherspruch hochgehalten, und nur sie glaubten an die Rückkehr von Waskors Sohn, dessen Spur sich in der Weite des antar ischen Winters verloren hatte. Die Kunde von Phyrras' Flucht mit dem Knaben war durch einen der Antaren überbracht worden, welcher der Sklaverei der Moradonen hatte entfliehen können.
Die anderen Stämme glaubten jedoch nicht mehr an die Rückkehr des jungen Hoc hkönigs, und die Verheißung der Befreiung wurde bei ihnen zur Legende. Yorns vorsichtiges Forschen hatte ihn daher zu dem Entschluß gebracht, sein Geheimnis zunächst noch für sich zu behalten, bis er glaubte, genug über seine Herkunft und die ihm gestellte Aufgabe erfahren zu haben.
Nach zwei weiteren Wochen näherten sich die beiden Reisenden der Gegend, in der sich die Niveder niedergelassen haben sollten. Man hatte die beiden jungen Männer gewarnt, in das Gebiet des Stammes einzudringen, denn die Niveder duldeten keine Fremden aus Angst, Spione der Moradonen könnten ihren Schlupfwinkel aufspüren. Besonders die Niveder wurden nämlich von den Moradonen als Sklaven bevorzugt, denn die Männer waren groß und kräftig und die Frauen von außergewöhnlichem Reiz.
Es ging die Kunde, dass die Niveder jeden Fremden töteten, den sie auf ihrem Gebiet ergriffen, zumal es auch unter den Antaren Verräter gab, die für Gold oder die eigene Freiheit bereit waren, ihr Volk an die Moradonen auszuliefern.
So ritten die Brüder denn mit angespannter Wachsamkeit durch die zerklüftete Bergwil dnis. Ihr Weg führte durch tiefe Schluchten, über schroffe Berggrate und an tiefen Abgründen vorbei, und die spärliche Vegetation bot kaum genug Futter für die Pferde oder ein wenig Holz für ihr Nachtlager. Der Weg verlor sich oft im Geröll, und die beiden hatten Mühe, wieder einen gangbaren Pfad zu finden. Nichts rührte sich, und nirgendwo konnten sie Anzeichen dafür entdecken, dass sie sich vielleicht dem Unterschlupf der Niveder näherten.
Drittes Kapitel
Als die Nacht hereinbrach, lagerten sie unter einem überhängenden Felsen, der ihnen ein wenig Schutz vor dem Regen gewährte, der schon seit Stunden in feinen Tropfen auf sie niederging und sie trotz ihrer Umhänge fast völlig durchnässt hatte. Eingedenk der Warnungen beschlossen sie, während der Nacht abwechselnd zu wachen. Doch der anstrengende Ritt durch das unwegsame Gelände mit ständig angespannten Sinnen hatte die beiden jungen Männer ermüdet. So kam es, dass Yorn - kaum, dass er zwei Stunden gewacht hatte - die Augen zufielen.
Unsanft wurde er plötzlich aus dem Schlaf gerissen, als derbe Fäuste ihn packten und sich kräftige Lederriemen um seine Handgelenke schlangen. Im flackernden Licht einiger entzü ndeter Kienholzfackeln sah er, dass auch Reven bereits gebunden auf der Erde lag und nun von zwei Männern hochgerissen wurde. Yorn sah sich um und blickte in die finsteren Gesichter von zehn Nivedern, die ihn und Reven im Kreis umstanden.
„Wer seid ihr und was sucht ihr hier in den Bergen?“ herrschte einer der Männer Yorn an. Obwohl Yorn sich keineswegs behaglich fühlte, bemühte er sich, das den Männern nicht zu zeigen.
„Ich dachte stets, unserem Volk sei das Gastrecht heilig!“ sagte er trotzig. „Behandelt man so Männer, die in Frieden kommen?“
„Seit Gäste Tod und Verderben über uns brachten, wählen wir gut aus, wem wir Gastrecht und wem wir den Tod
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