Das Orakel von Antara
lange relativ sicher, bis Xero das Turmzimmer betrat. Ließ er jedoch Yorn den Vortritt, damit dieser zuerst beweisen musste, ob er den Unhold beruhigen konnte, gab es eine Möglichkeit für Yorn zu entkommen. Da nur der König das Turmzimmer betreten konnte, würde es Yorn nur noch mit ihm zu tun haben. Der König trug zwar ein Schwert, aber Yorn fürchtete ihn nicht. Der schwerleibige Mann war kein Gegner für ihn.
Er zählte darauf, dass sein Schwert zu ihm zurückkehrte, wenn er es brauchte. Er hatte diese durch die Prophezeiung erklärte Eigenschaft der Waffe zwar noch nie ausprobiert, aber er vertraute auf Saadh. Man konnte das Seil, das er an der Turmmauer zurückgelassen hatte, noch nicht entdeckt haben, denn sonst hätte Xero gewusst, dass und wie er in den Turm gelangt war. So würde es für Yorn ein Leichtes sein, sich in den Garten hinabzulassen, wenn er sich erst des Königs entledigt hatte. Die Soldaten konnten ihm so schnell nicht folgen, da sie den Wächter zu fürchten hatten. So konnte er auf demselben Weg flüchten, den er schon einmal genommen hatte. Wenn der Überraschungseffekt groß genug war, musste es ihm gelingen, auch die Wache zu überrennen, die seit dieser Zeit an der aufgebrochenen Tür stand.
„Gut, Yorn! So kann es klappen!“ Yorn spürte Vaneas Erleichterung, und seine Zuversicht wuchs.
Dann betraten sie die Basis des Turms. Yorn stieg vor den Soldaten die gewundene Treppe hinauf. Der König folgte als Letzter. Unter der Stelle, wo sich der Turm an der Spitze verbreiterte, gelangte Yorn auf einen weiten Treppenabsatz, von dem dann nochmals zehn Stufen zu einer Tür führten. Auf Geheiß der Soldaten blieb Yorn stehen, bis auch der König den Absatz erreicht hatte.
Da ertönte plötzlich von oben ein markerschütterndes Gebrüll, das die Wände des Turms erdröhnen ließ. Obwohl Yorn mit etwas derartigem gerechnet hatte, schrak er zusammen. Die Laute waren so entsetzlich, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Der König hatte gerade den Treppenabsatz erreicht und Yorns Erschrecken gesehen. Nun lachte er und sagte:
„Nun, Yorn von Niveda, hörst du meinen kleinen Liebling? Geh nur zu und beruhige ihn! Für dich gibt es nur noch den Weg nach oben, denn kehrst du um, warten vier Schwerter auf dich. Du hast die Wahl, entweder in den Pranken des Wächters oder unter den Klingen der Soldaten zu enden.“
„Mein Leben liegt in Saadhs Händen, König von Moradon“, lächelte Yorn zurück, „weder in den deinen noch in denen deiner Werkzeuge. Wohlan, so sollst du sehen, dass die Macht deines Fetischs gebrochen ist!“ Ohne eine Reaktion auf seine Worte abzuwarten, wandte er sich um und ging die restlichen Stufen hoch. Als er sich der Tür näherte, steigerte sich das Toben der Missgeburt dahinter zum Crescendo.
„Vanea!“ flehte Yorn und legte die Hand auf den Türknauf. „Ruhig, Liebster!“ kam die Antwort. „Öffne unbesorgt die Tür!“
Yorn nahm allen Mut zusammen und drehte die Verriegelung. Im gleichen Augenblick verstummte das Brüllen. Beherzt trat Yorn ein, doch der Anblick des Wesens, das dort in dem winzigen Vorraum in einer Ecke kauerte, trieb ihm einen Schauer des Entsetzens über den Rücken.
Obwohl der Unhold hockte, überragte der unförmige, völlig haa rlose Schädel Yorn um ein gutes Stück. Die Arme mit den riesigen Pranken schienen länger zu sein als die säulenartigen Beine, jedoch ebenso dick. Aus den Fingerspitzen wuchsen krallenartige Nägel, die jedem Bären Ehre gemacht hätten und deren tiefe Spuren sich überall im Mauergestein zeigten. Der ungeschlachte Riese musste wohl anderthalb Mannslängen messen, doch der Raum war nicht hoch genug, dass er sich hätte aufrichten können. Um den Hals der bedauernswerten Kreatur lag ein Eisenring von der Stärke einer Männerfaust. Eine armdicke Eisenkette war daran befestigt. Diese Kette war jedoch so kurz, dass der Koloss weder die Tür zur Treppe noch die zum Heiligtum erreichen konnte. Wenn er jedoch seine langen Arme ausstreckte, konnte er die gegenüberliegende Wand berühren.
Trotz des entsetzlichen Anblicks fühlte Yorn sofort Mitleid mit dem erbarmenswerten Wesen, das hier wie ein Vieh angeke ttet war. Denn die Augen des Ungeheuers waren mit dem Ausdruck eines verängstigten Kindes auf Yorn gerichtet, das erwartet, geschlagen zu werden. So viel Elend und unsägliche Qual sprachen aus diesem Blick, dass Yorn alle Furcht verlor. Ruhig ging er durch den engen Durchgang,
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