Das Orakel von Antara
den die gewaltigen Glieder des Unglücklichen freiließen, auf die Tür des Heiligtums zu.
Ohne sich zu rühren, ließ das Wesen Yorn passieren. Nur seine Augen folgten mit aufke imender Hoffnung im Blick Yorns Weg. Als sich die Tür des Heiligtums hinter Yorn schloss, wurde der Riese wieder unruhig, und dann dröhnte erneut sein Gebrüll durch den Turm.
Yorn sah sich im Heiligtum um. Alles war noch genauso, wie er es in jener schicksalhaften Nacht verlassen hatte. Nur schien der Glanz des Goldes, das den Raum überall schmückte, verblasst und fleckig zu sein im Licht der niederfallenden Dämmerung. Doch Yorn hatte nicht lange Zeit, sich darüber zu wundern, denn plötzlich wurde das Gebrüll des Riesen vom durchdringenden Schrillen einer Pfeife zerschnitten. Im gleichen Augenblick verstummte das Brüllen, doch dann setzte es mit vermehrter Wut wieder ein.
Ein markerschütternder Schrei, der nicht aus der Kehle des Riesen kam, ließ Yorns Blut g efrieren. Sekundenlang stand er wie erstarrt, doch dann riss er die Tür zum Vorraum auf. Das Grauen traf ihn wie ein Schlag, und sein Magen verkrampfte sich bei dem Anblick, der sich ihm bot. Der kleine Raum war über und über mit Blut bespritzt, und das missgestaltete Geschöpf riss und zerrte an den verstümmelten Gliedern eines Körpers, in dem Yorn nur noch an den Gewandfetzen die Überreste des Königs erkennen konnte.
Mit der Macht des Herzens war auch die Wirkung der Pfeife verschwunden - und nun hatte sich die gequälte Kreatur an ihrem Peiniger gerächt! Erschüttert schloss Yorn die Tür.
Xero war zugrunde gegangen wie er gelebt hatte - brutal und grausam! Eine geraume Weile brauchte es, bis sich Yorn von dem Schreckensbild erholt hatte und wieder klar de nken konnte. Dann jedoch handelte er. Mit aller Kraft seiner Seele wünschte er sich sein Schwert zurück - und siehe da - schon lag das Heft der Waffe vertraut und beruhigend in seiner Hand! Rasch schob Yorn die immer noch blutbefleckte Klinge in die Scheide und lief zu dem Fenster hinüber, durch das er schon damals eingestiegen war. Als er sich hinauslehnte, sah er zu seiner großen Freude das Seil noch von der Mauerkrone hängen, dessen graubraune Farbe sich kaum vom Mauerwerk abhob.
Schon zwängte sich Yorn durch das aufgebrochene Gitter, und wenige A ugenblicke später stand er in Sabretes Rosengarten. Es war unterdessen dunkel geworden, ein Umstand, der Yorn nur zu recht war. Niemand würde ihn sehen, wenn er den Garten durchquerte.
Es würde geraume Zeit dauern, bis die vier Soldaten im Turm den Mut aufbringen würden, die Tür zu öffnen und nach dem Verbleib ihres Herrn zu forschen. Dann würde der Tod des Königs sie so entsetzen, dass sie wohl kaum zu schnellen Entschlüssen fähig wären. Außerdem würde niemand wissen, ob er nicht auch unter den Klauen des Monsters den Tod gefunden hatte.
Das gab Yorn den nötigen Vorsprung, und er gedachte, ihn auch gut zu nutzen. Jetzt, wo er sich dem Ziel so nah sah, würde ihn nichts mehr aufhalten. In der Deckung der hohen R osenbüsche lief Yorn geräuschlos auf den Zugang zum Gebäude zu.
Als er an den Gemächern der Prinzessin vorbei kam, verhielt er den Schritt und sah zu den dunklen Fenstern hinüber. Ein scharfer Schmerz zerschnitt seine Seele, als er an Kandon dachte. Armer Freund! Würde er jemals am Grab des gutm ütigen Hünen das Knie beugen? Yorns Augen wurden feucht, als er an das warme Lachen Kandons dachte, an seine tiefe Freundschaft und Ergebenheit und an seine Treue, die Yorn bis zuletzt wie ein Schutzwall umgeben hatte. Und Reven? Was war mit dem Bruder geschehen? Lebte er noch, oder war er - obwohl den Kerkern der Moradonen entronnen - doch ein Opfer ihrer Willkür geworden? Seufzend riss sich Yorn von seinen Gedanken los. Jetzt war nicht die Zeit zu trauern, sondern zu handeln!
Wenig später schlüpfte er schon in den Gang, der zum Schlafsaal führte. Einen Augenblick horchte er an der Tür, das Schwert in der Hand, aber dort rührte sich nichts. Noch waren die Sklaven nicht von ihrer täglichen Arbeit zurückgekehrt. Leise öffnete er die Tür und trat in den Saal. Der Mond schien schon durch die schmalen Fenster, und Yorn erkannte in dem fahlen Licht, dass in einigen Betten Leute schliefen. Das mussten die Sklaven sein, die des Nachts für den König bereitzustehen hatten. Ein winziges Lächeln huschte über Yorns Lippen, als er daran dachte, dass sie sich nun für Xero nie mehr die Nacht um die Ohren schlagen
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