Das Orakel von Antara
Rücksicht nehmen müssen und darum nicht so schnell vorwärts kommen wie allein.
Vanea bereute es, darauf bestanden zu haben, dass er sie mitnahm. Aber nun war es zu spät umzukehren. Sie musste sich damit zufrieden geben, Yorn dieses eine Mal noch haben helfen zu können. So blieb ihr nur, sich ihm so wenig wie möglich hinderlich zu zeigen.
Darum kämpfte sie sich verbissen vorwärts. Stundenlang drängte Yorn u nermüdlich durch den Wald, kaum dass er einmal einem zu dichten Gestrüpp auswich oder eine Gruppe Unterholz umging. Es musste bereits Nachmittag sein, als Vanea spürte, dass sie nicht mehr weiterkonnte. Die Erschöpfung ihrer geistigen Kräfte hatte ihr zwar nichts von ihrer Körperkraft geraubt, aber der lange, beschwerliche Marsch hatte sie nun völlig ausgepumpt.
„Yorn! Ich kann nicht mehr!“ Sie ließ ihr Bündel fallen und sank neben einem Baumstamm ins feuchte Moos nieder. Yorn kam zu ihr zurückgeeilt. Schuldbewusstsein stand in seinen Augen, als er neben ihr niederkniete.
„Verzeih, Vanea!“ sagte er. „Wir werden eine Rast einlegen. Ich hätte wissen müssen, dass mein Tempo für dich zu schnell ist. Wir werden etwas essen und danach etwas langsamer weitergehen. Wir können nicht mehr weit von dem Hof entfernt sein. Ich glaube nicht, dass wir in die Irre gegangen sind, denn ich habe mich immer an dem Weg orientiert, der zu dem Anwesen führt. Wir sind stets nur wenige Meter davon entfernt durch den Wald gegangen. Aber wir konnten den Weg nicht benutzen, so gern ich dir auch den Marsch erleichtert hätte. Aber wir hätten dort rasch einer Patrouille in die Hände laufen können. Dieses Risiko war mir zu hoch. So kurz vor dem Ziel darf ich nicht leichtsinnig werden. Zuviel hängt für die Antaren davon ab, dass wir Nith bald erreichen.“
„Ich weiß!“ sagte Vanea niedergeschlagen. „Ich bin nur eine Last für dich auf diesem Weg. Ich hätte nicht mitkommen dürfen. Allein kämst du schneller voran.“
„Das ist doch Unsinn!“ widersprach Yorn. „Wärst du nicht mitgekommen, hätten mich die Moradonen aufgegriffen und alles wäre vorbei gewesen. Wenn sie gemerkt hätten, wer ihnen da in die Hände gefallen ist, hätten sie mich wohl sofort getötet. Ein drittes Mal wäre ich ihnen sicher nicht entkommen.“
Sie rasteten eine Weile und aßen etwas von dem mitgenommenen Proviant. Yorn drängte Vanea nicht, doch sie spürte, dass er nach einer halben Stunde unruhig zu werden begann. So erhob sie sich wortlos und packte ihr Bündel zusammen.
„Bist du sicher, dass du weitergehen kannst?“ fragte Yorn besorgt. „Ruhe dich lieber noch etwas aus.“
„Nein, nein, ich werde es schon schaffen“, antwortete Vanea. „Du sagst ja, es könne nicht mehr weit sein.“ Sie versuchte ein kleines Lächeln. „Wenn ich erst reite, mache ich nicht so schnell schlapp, das weißt du.“
„Möge Saadh uns dazu verhelfen!“ murmelte Yorn.
Doch er sah nicht sehr zuversichtlich aus. Der Regen hatte aufgehört, doch ihre Kleidung war feucht, und Vanea hatte während der Rast zu frieren begonnen. Auch der folgende rasche Marsch ließ sie nicht wieder warm werden. So stolperte sie fröstelnd und unglücklich hinter Yorn her. Nach etwa einer Stunde blieb Yorn plötzlich so abrupt stehen, dass Vanea fast in ihn hineingelaufen wäre.
„Was ist los?“ fragte sie erschreckt.
„Rauch!“ sagte er. „Riechst du es nicht? Das hat nichts Gutes zu bedeuten!“
Auch Vanea spürte den Brandgeruch. „Der Hof ist in der Nähe. Vielleicht treibt der Wind den Qualm des Herdfeuers auf den Wald zu“, versuchte sie Yorn zu beruhigen.
„Das ist kein Herdfeuer!“ widersprach Yorn. „Komm!“ Er ergriff ihre Hand und zog sie mit sich fort.
Nach wenigen Minuten begann sich der Wald zu lichten. Und dann sahen sie zwischen den letzten Baumstämmen hindurch die qualmende Ruine eines Hauses.
„Oh, Ihr Götter!“ flüsterte Yorn heiser. Dann rannte er los. Als Vanea ihn einholte, stand er fassungslos vor den schwarz verbrannten Balken des Hofes, der ihr Ziel gewesen war.
Vanea schrie auf. Erst jetzt sah sie, dass zahlreiche Leichen umherlagen und der Boden mit Blut getränkt war. Schweigend ging Yorn zu den Toten und bückte sich. Dann hob er den mageren Körper eines kleinen Jungen auf. Mit einer zärtlichen Handbewegung wischte er Blut und Staub vom Gesicht des Kindes und strich die dunklen Locken aus der kleinen Stirn. Ein Stöhnen entrang
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