Das Orakel von Antara
kleine Kinder hingen nur stumm und mit gr oßen Augen an den Röcken ihrer Mütter und wagten nicht, sich zu rühren.
„Das hier muss alles völlig lautlos vor sich gehen“, flüsterte Schorangar Yorn und Vanea zu. „Ein lautes Wort könnte uns verraten, denn die Nachbarhäuser sind von Moradonen bewohnt. Es ist sowieso ein Wunder, dass noch niemand bisher bemerkt hat, dass hier nachts immer Leute ins Haus kommen.“
Bereitwillig und mit respektvoller Scheu traten die Leute beiseite, als Schorangar die beiden nun zum Eingang des Tunnels führte. Sie wussten genau, wem sie da Platz machten, denn Schorangar hatte schon während der Nacht alles vorbereitet. Nun drückte er Yorn und Vanea stumm die Hand und schob sie dann eilig in den Tunnel. Yorn musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf anzustoßen, und hier und da streiften seine Schultern die Wände.
Vanea tappte in der völligen Finsternis hinter ihm her. Sie hatte sich zunächst gewundert, w arum sie keine Lampe mitgenommen hatten. Es wurde ihr jedoch bald klar, als die Luft immer schlechter wurde. Jede Flamme hätte noch mehr des so schon knappen Atems gekostet. So war sie heilfroh, als sich plötzlich vor ihnen ein schwacher Schimmer zeigte. Nach der Schwärze des Tunnels blendete das erste Grauen des Tages fast die Augen.
Yorn half ihr aus dem Loch, das unweit der Stadt in einem dichten Gehölz verborgen war. Vanea atmete tief durch. Nach der stickigen Luft im Tunnel e rschien ihr der kühle, klamme Nebeldunst dieses Morgens wie eine frische Brise. Doch Yorn ließ ihr nicht lange Zeit zu verschnaufen.
„Komm!“ wisperte er. „Wir müssen verschwunden sein, bevor die nächsten hier sind.“
Vorsichtig wanden sie sich durch das dichte Unterholz, in das die zahlreichen Flüchtlinge schon kleine Pfade getreten hatten, die in verschiedene Richtungen vom Tunnelausgang wegführten. Yorn schlug die Richtung ein, die Schorangar ihnen angegeben hatte. Zum Glück war das Gehölz recht ausgedehnt, und so kamen sie erst in ziemlicher Entfernung von der Stadt ins Freie. Nun zeigte sich bereits das erste Licht des beginnenden Tages. Mit besorgtem Gesicht schaute Yorn sich um. Es würde jetzt rasch hell werden, und ihr weiterer Weg würde ein ganzes Stück über offene Felder und Wiesen führen.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte er daher. „Ich möchte jenen Wald da hinten erreichen, ehe die Sonne aufgegangen ist. Hinter dem Wald liegt das Gehöft, wo Schorangar unsere Pferde untergebracht hat. Wenn dort alles klar ist, werden wir uns bis zum Abend auf dem Hof verbergen und erst bei beginnender Dunkelheit weiterreiten. Ich möchte kein Risiko eingehen, obwohl wir bei Nacht den Weg schwerer finden werden. Aber wir können im Dunkeln nicht so leicht aufgespürt werden, solange wir noch in der Nähe der Stadt sind. Gib mir dein Bündel, dann kannst du schneller laufen.“
Yorn schulterte zu dem Beutel mit Proviant, den er bereits trug, noch das Bündel mit Decken, das er Vanea trotz ihres Protestes von der Schulter nahm. Dann hastete er davon. Vanea hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, und war bald völlig außer Atem. Als Yorn bemerkte, dass sie hinter ihm zurückblieb, hielt er an.
„Ich kann nicht so schnell, Yorn!“ keuchte Vanea, als sie ihn einholte. „Bedenke doch, dass ich es nicht gewohnt bin, so weite Strecken zu Fuß zu gehen.“
„Gut, dann müssen wir eben langsamer gehen“, seufzte Yorn. „Es ist nur gut, dass es so neblig ist.“ Er schaute sich prüfend um. „Es sieht so aus, als würde der Nebel bleiben. Wahrscheinlich wird es heute noch regnen. Das Wetter ist und von Saadh gesandt, denn so steigen unsere Chancen, unentdeckt zu bleiben. Aber trotzdem müssen wir jetzt weiter.“
Auch Vanea schaute sich um. Durch Yorns Hast war ihr gar nicht aufgefallen, dass der Nebel stärker geworden war. Wo man vorhin noch in der Ferne den Wald hatte erkennen können, verbargen jetzt dichte Dunstschleier den Ausblick. Während Yorn schon wieder weiterging, blieb Vanea einen Moment stehen und überlegte. Der Nebel war ihr Element gewesen. Würde er auch jetzt noch ihrem Willen unterworfen sein? Sie zögerte, einen Versuch zu wagen. Eine Bestätigung ihrer Fähigkeiten würde ihr jetzt und vielleicht auch später von Nutzen sein. Andererseits fürchtete sie sich davor, vielleicht erkennen zu müssen, dass sie doch nicht in so hohem Maße menschlich war, wie sie es für Yorn und die Antaren gern sein wollte.
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