Das Orakel von Antara
großer Tropfen von Yorns Wange auf Vaneas Stirn nieder und zersprühte in winzigen Perlen auf ihrer Haut. Wer konnte sagen, ob es Tränen oder Regen war? Mit einer mechanischen Handbewegung wischte Yorn die Tröpfchen ab, doch schon fielen weitere auf sie nieder und benetzten ihr Gesicht.
Und da begannen Vaneas Lider zu flattern und sie schlug die Augen auf. Mit einem Fre udenlaut löste sich Yorns Erstarrung.
„Vanea, Vanea, mein Herz! Was ist nur mit dir geschehen!“ rief er aufgeregt. „Wie fühlst du dich? Geht es dir gut?“
Noch etwas abwesend setzte sich Vanea auf und schaute verwirrt um sich. „Geschehen? Mit mir?“ fragend sah sie Yorn an. Doch dann schien ihre Erinnerung wiederzukommen.
„ Ach, ja, die Moradonen!“ sagte sie. „Ich sah sie kommen. Sie ritten genau auf uns zu. Wir wären unweigerlich in ihre Hände gefallen, denn es waren mehr als zwanzig. Ich musste dem Nebel gebieten, doch ich spürte genau, dass er mir nur noch widerwillig gehorchte. Ich habe alles, was mir von meinen alten Kräften geblieben war, in diesen einen Sprung gelegt. Ach, Yorn, nie mehr werde ich mir nun den Nebel dienstbar machen können“, schloss sie gepresst. „Es gibt sie nicht mehr, die Königin des Nebelreiches!“
„Es gab sie schon lange nicht mehr“, sagte Yorn leise und küsste Vanea sanft auf die Stirn. „Aber bald wird es die Königin der Antaren geben. Glaubst du nicht, dass das ein guter Ersatz ist? Die Hauptsache ist doch, dass du durch unsere Rettung keinen Schaden genommen hast. Sag doch, geht es dir besser, oder bist du immer noch so matt?“
„Nein, es geht mir gut“, antwortete sie, doch Yorn sah in ihren Augen eine tiefe Trauer.
„Aber, was ist denn nur, Vanea?“ fragte er. „Ich sehe, dass dich etwas bedrückt, wogegen ich außer mir bin vor Glück, dass du lebst und keinen Schaden genommen hast. So nützlich deine Herrschaft über den Nebel auch war - hast du nicht immer Angst gehabt, man könne dich deswegen fürchten? Nun, das ist jetzt vorbei! Nun bist du nicht mehr anders als alle Menschen.“
„Nein, jetzt bin ich nicht mehr anders“, sagte Vanea tonlos, „denn ich habe auch alle anderen Kräfte verloren. - Ich kann deine Gedanken nicht mehr empfangen, Yorn!“ schrie sie plötzlich verzweifelt und warf sich an Yorns Brust. „Oh, Yorn! Niemals wieder werde ich dir so nahe sein können wie in unserer Gedankenverbindung. Für mich ist es, als sei ich blind und taub geworden.“
„Beruhige dich doch, mein Herz!“ Yorn strich Vanea tröstend übers Haar. „Nichts hat sich für uns geändert, denn wir werden uns immer nah sein, auch wenn unsere Gedanken nicht mehr verbunden sind. Es mag für dich jetzt schlimm sein, diese Fähigkeiten verloren zu haben. Aber mit der Zeit wirst du vergessen, dass du jemals anders warst.
Sieh doch, du bist ein Mensch, und alle Menschen können auch ohne diese Gaben glüc klich sein. Und ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um dich glücklich zu machen.
Aber komm jetzt! Wenn du dich stark g enug fühlst, wollen wir aufbrechen, denn die Zeit drängt. Wir müssen Nith so schnell wie möglich erreichen.“ Er stand auf und zog sie mit sich hoch. Noch einmal hob er ihr Gesicht zu sich auf und küsste sie zärtlich. „Glaub mir, Vanea, auch wenn dich keine geheimen Kräfte mehr von den Menschen unterscheiden - für mich und für unser Volk wirst du stets etwas Besonderes sein. Gewiss, deine Fähigkeiten waren ausschlaggebend für alles, was wir bis jetzt erreichten, aber ich bin sicher, dass wir mit Saadhs Hilfe unser Ziel jetzt auch ohne sie erreichen werden. Denn nun steht uns auch nicht mehr Bloors böse Magie entgegen. Menschlicher Mut und menschliche Kraft müssen jetzt unser Schicksal entscheiden. Darum komm jetzt! Noch gilt es, beides zu beweisen!“
Er nahm sein Gepäck auf, und auch Vanea lud sich seufzend wieder ihr Bündel auf den Rücken. Während sie hinter Yorn her durch den regennassen Wald stapfte, kämpften widerstreitende Gefühle in ihr.
Sicher , ihre Andersartigkeit hatte ihr stets die Furcht bereitet, Yorn könne sich einmal deswegen von ihr abwenden. Andererseits hatten diese Fähigkeiten ihn oft aus höchster Not gerettet.
Doch wie sollte sie ihm nun weiterhin von Nutzen sein, wenn sie ihn nicht mehr beschü tzen konnte? Auf seinem Weg zu Nith würde sie Yorn nur hinderlich sein, denn seiner Kraft und Ausdauer hatte sie nichts entgegenzusetzen. Er würde ständig auf sie
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