Das Orakel von Antara
diesem Augenblick wurde ihr die Entscheidung jedoch aufgezwungen, denn das G eräusch nahenden Hufschlags ließ Vanea zusammenfahren. Auch Yorn hatte die Pferde gehört und wandte sich erschreckt um, um zu sehen, wo Vanea blieb.
Doch da war nur ein dichter Nebelfleck, der sich mit rasender Geschwindi gkeit auf ihn zu bewegte. Ehe Yorn sich versah, fühlte er sich mitsamt seinem Gepäck hochgehoben, und die Nebelwolke trieb mit ihm auf den Wald zu, ihn in dichten Schwaden den Blicken der Nahenden entziehend.
Als die Schemen der ersten Bäume vor Yorn auftauchten, hatte er auf einmal wieder fe sten Boden unter den Füßen. Die Nebelwolke um ihn herum floss zur Seite, und dann zeichneten sich die Umrisse von Vaneas Gestalt ab. Sekunden später hatten sich die Schwaden verdichtet, und der Körper des Mädchens hatte wieder seine menschliche Gestalt.
Yorn war über das seltsame Geschehen mehr überrascht als erschrocken gew esen, denn ihm war sofort klar, dass es nur von Vanea herrühren konnte. Umso mehr erschrak er jetzt, als sie ohne einen Laut vor seinen Füßen zusammenbrach, kaum dass sich ihr Körper wieder verfestigt hatte. Voll Angst warf er das Gepäck zu Boden, kniete nieder und hob Vaneas Oberkörper in seine Arme.
„Um Saadhs Willen! Vanea! Vanea! Was ist mit dir?“ rief er unterdrückt und schüttelte sie leicht. Doch sie rührte sich nicht. Panik fasste mit kalter Hand nach seinem Herzen. Seine Hilflosigkeit machte ihn mutlos, denn er konnte sich nicht erklären, was mit Vanea geschehen war. Immer wieder rief er ihren Namen, jetzt laut und verzweifelt, denn das Hufgeräusch war im Nebel verklungen. Yorns Sorge um Vanea hatte ihm nicht bewusst werden lassen, wie nah die Reiter an ihnen vorbeigekommen waren.
Er tastete nach dem Puls des Mä dchens und legte sein Ohr auf ihr Herz. Nur schwach und unregelmäßig fühlte er das Schlagen, und ihre Brust hob sich kaum merklich unter seiner Hand. Yorn zwang sich zur Ruhe. Er musste nachdenken, eine Erklärung finden und somit vielleicht einen Weg, wie er ihr helfen konnte.
Was also war genau geschehen? Vanea hatte wie er das Geräusch der nahenden Reiter gehört. Für sie jedoch mussten sie auch sichtbar gewesen sein, denn sie war nun einmal eine Bewohnerin des Nebelreichs gewesen, für die das gewohnte Element keine Behinderung der Sicht darstellte. Also hatte sie wohl erkannt, dass dort Feinde kamen, denn sie schien alle Kräfte mobilisiert zu haben, um ihn und sich selbst der Gefahr zu entziehen. Hatte sie sich damit zu viel zugemutet?
Nur das konnte es gewesen sein! Yorn wusste ja, dass Vanea nur noch einen geringen Teil der Kräfte besaß, die ihr in ihrem eigenen Land in so ungeahnter Fülle zur Verfügung gestanden hatten. So musste ihre verzweifelte Tat sie so völlig erschöpft haben, dass sie bewusstlos zusammengebrochen war. Doch was konnte er tun, um sie wieder zu Kräften zu bringen? Wenn er ihr doch nur etwas von seiner Energie abgeben könnte! Aber vielleicht war das ja möglich.
Yorn schloss die Augen und versuchte, sich völlig auf Vanea zu konzentrieren. Vielleicht gelang es ihm ja, auch ohne ihre Mithilfe den Weg zu ihrem Geist zu finden und ihr auf diese Weise etwas von seiner Kraft zu übertragen. Immer wieder versuchte er es, bis ihm einfiel, dass sie ja auch mit Reven keinen Kontakt hatte aufnehmen können, solange er ohne Bewusstsein war. Er gab auf, mit schwindender Hoffnung den schlaffen Körper des Mädchens in seinen Armen wiegend.
„Vanea, mein Liebling, Verlass' mich nicht!“ murmelte er. „Wir sind unserem Ziel doch so nah! - Oh, Saadh! Soll sie denn für all ihre Opfer und die ausgestandenen Gefahren so belohnt werden? Hilf, Herr der Götter! Tat sie nicht alles, um deinen Willen zu erfüllen? Was ist mir ein Sieg über die Moradonen, wenn sie nicht an meiner Seite die Freiheit der Antaren feiern kann?
Ich wollte ihr einmal die Schönheit von Antara zeigen, den großen See und die einst so stolze Stadt an seinen Ufern. Ich wollte ihr zeigen, wofür sie Not und Gefahr auf sich g enommen hat. Ich wollte ihr ein Reich, eine neue Heimat zu Füßen legen. Erhalte mir, Herr, die Frau, die ich liebe, und den Antaren ihre Königin! Hilf, Herr der Götter, hilf!“ flehte er.
Wie lange er so gesessen hatte, Vaneas leblose Gestalt an sich gepreßt, wusste er nicht. Er spürte nicht, dass es angefangen hatte zu regnen und dass ihm der Regen über die Wangen rann und auf Vaneas blasses Gesicht tropfte. Wieder fiel ein
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