Das Orakel von Antara
Fahrt, und Yorn wusste nicht, ob es aus Schwäche geschah, oder ob er sie mit seiner Belehrung zurechtgewiesen und verletzt hatte. Erst im Nachhinein war ihm bewusst geworden, dass sie seine Worte nicht auf den Wolf, sondern auf ihn selbst bezogen hatte. Nun glaubte sie wohl, er habe sie für ihren Wunsch, er möge ein Jahr bei ihr im Nebelreich verbringen, tadeln wollen. Er ahnte, dass sie sich nun noch stärker zurückgewiesen fühlte und dass sie nun erst recht glaubte, er fände sie abstoßend. Das schmerzte Yorn, denn genau das Gegenteil war der Fall. Hatte er sich schon im Nebelreich auf eine unerklärliche Art zu ihr hingezogen gefühlt, obwohl ihr fremdes Wesen ihn erschreckte, so spürte er jetzt genau, dass seine Zuneigung zu ihr von Tag zu Tag wuchs. Je mehr von Vaneas Fremdartigkeit verschwand, desto öfter suchte er ihre Nähe. Trotz ihrer verzweifelten Lage genoss er es, dicht hinter ihr auf dem Schlitten zu stehen. Immer wieder fiel sein Blick voll Zärtlichkeit auf den geneigten Scheitel der schneeigen Haarfülle, die wie der Schleier des gefrorenen Wasserfalls auf den dichten Bärenpelz niederfiel und deren weiche Locken sich mit dem samtenen Fell vermischten. Gern hätte er ihr gesagt, dass er sie mochte, doch er fürchtete, sie würde es für Mitleid halten und sich noch mehr von ihm zurückziehen. So schwieg auch er, und nur die Hoffnung auf Saadhs Hilfe ließ die Stimmung der kleinen Gesellschaft nicht völlig erfrieren.
Am späten Nachmittag des vierten Tages sahen sie endlich in der Ferne die Spitzen der Felsen aufta uchen, bei denen die Pferde zurückgeblieben waren. Erleichtert atmeten die Gefährten auf, denn die Fahrt war in den letzten Stunden immer beschwerlicher geworden. Der Schnee schmolz, und in großen Flecken schaute bereits das Gras darunter hervor. Das hatte den glatten Lauf der Schlitten gehemmt, und die Wölfe begannen unruhig zu werden. Nur noch widerwillig gehorchten sie den Zügeln, und hier und da zerrte einer von ihnen mit den Zähnen an den Lederriemen der Gurte. Auf einmal deutete Reven nach vorn. Seine scharfen Augen hatten eine Bewegung am Horizont entdeckt.
„Seht nur! Da vorn zieht eine Herde Rentiere!“ rief er.
Yorn stoppte den Schlitten und sprang ab. „Schnell, schneidet die Wölfe los!“ sagte er. „Wir brauchen sie nicht mehr, denn den Rest des Weges schaffen wir auch zu Fuß. Aber dort ist eine Gelegenheit, dass die ausgehungerten Tiere an eine Mahlzeit kommen können. Wir dürfen sie nicht länger festhalten.“
Schon hatte er seinen Dolch gezogen und zerschnitt die Riemen seines Gespanns. Die Wölfe schüttelten sich nur kurz und sausten dann wie der Blitz davon, denn auch sie hatten die Rentiere natürlich längst gewittert.
Nur der große Leitwolf wandte sich noch einmal zu Vanea um. Er hob den Kopf und stieß ein winselndes Heulen aus, dann jagte auch er hinter seinem davo neilenden Rudel her, um sich bald darauf an die Spitze der Jäger zu setzen. Vanea sah ihnen nach, bis ihre weißen Felle in der Landschaft verschwammen. Tränen standen in ihren Augen, aber sie versuchte krampfhaft, ein Schluchzen zu unterdrücken.
„Kommt, wir müssen weiter!“ mahnte Yorn, denn auch Reven und Kandon hatten den Wölfen nachgesehen. „Es ist noch ein ganzes Stück bis zu den Felsen. Wenn wir sie vor der Dunkelheit erreichen wollen, dürfen wir nicht trödeln. Ladet die Pelze hier zu Vanea in den Schlitten. Solange es kalt ist, werden sie uns noch gute Dienste tun. Wir knüpfen aus den Riemen Ziehgurte für uns, dann können wir den Schlitten bequem selbst fortbekommen. Auch Wynn kann helfen.“
Bald schon legten sich die Männer in die Riemen, und mit Wynns kräftiger Unterstützung glitt der Schlitten mit Vanea weiter den Felsen entgegen. Die Aussicht, bald das Lager zu erreichen, hatte die Stimmung der Männer mächtig angehoben. Reven drehte sich daher lachend zu Vanea um und rief:
„Sei ehrlich, nie hattest du vier schönere Schlittenhunde!“
„Schönere nicht, aber schnellere!“ lächelte Vanea. „Vielleicht sollte ich ein wenig die Peitsche gebrauchen.“
„Untersteh' dich!“ drohte Kandon scherzhaft. „Sonst kippen wir den Schlitten um, und du darfst in deinen wallenden Pelzen barfuß hinter uns herlaufen.“
„Wo ist dein Respekt, Kandon?“ fragte Yorn lächelnd. „Bedenke, dass du mit einer Königin sprichst.“
„Ach, das hatte ich ganz vergessen“, meinte Kandon verlegen und wurde rot.
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