Das Orakel von Antara
den Schlitten und legte den Arm um die bebenden Schultern des Mädchens. „Schau, Vanea“, fuhr er fort und zog sie an sich, „du hast so viel für mich und mein Volk getan, dass ich dir gern für alles Ersatz schaffen möchte, was du verloren hast. Du sollst durch mich eine neue Heimat finden, Freunde, Geborgenheit und Freude an einem Leben, das du erst noch richtig kennenlernen musst. Ich weiß ja, dass so viel Neues in dir und um dich herum auf dich einstürzt, und noch viel mehr wird in naher Zukunft auf dich zukommen, wenn wir erst unsere Heimat erreichen. Aber du sollst wissen, dass ich an deiner Seite bin und dir jederzeit helfen werde, wenn du glaubst, damit allein nicht fertig werden zu können.“
„Ich danke dir für dein Angebot, Yorn“, erwiderte Vanea mit bitterem Lächeln, „aber ich will nicht, dass du dich mir verpflichtet fühlst. Was ich getan habe, tat ich nicht nur um euretwillen. Ich tat es für mich, denn ich hatte erkannt, dass ich in meinem Land niemals glücklich sein konnte. Immer schon hatte ich mich im geheimen nach jenem Land jenseits des Nebels gesehnt, obwohl ich es nicht kannte. Es war wohl das Blut meines Ahnen, das mich hinaus ins Ungewisse trieb. Darum will ich nicht, dass du dich lange mit mir belastest. Erlaube mir nur, das Leben in dieser Welt in der Geborgenheit deines Stammes kennenzulernen, dann ziehe ich fort und suche mir irgendwo einen Platz, an dem ich bleiben möchte. Wenn es dir gelingt, deine Aufgabe zu erfüllen und dein Volk in die Freiheit zu führen, werden deine Tage mit genügend Verantwortung gefüllt sein, so dass du dich nicht auch noch um die Belange einer Fremden kümmern kannst, die nicht zu deinem Volk gehört, ja, die nicht einmal von deiner Art ist. Denn ich glaube schon jetzt, so sehr ich mich auch verändern werde, ein Stück des Nebelreiches wird immer in mir zurückbleiben. Aber ich bin nicht wie Naminda. Ich möchte nicht, dass sich jemand vor mir fürchtet. Daher werde ich fortgehen, wenn ich gelernt habe, dieses neue Leben zu meistern.“
Yorn erschrak. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Dann schalt er sich selbst einen Narren. Warum hatte er ihr nicht sofort, als er kam, gesagt, dass er sie liebte? Warum erst dieses Geschwätz von Dankbarkeit und all dem? Hatte er wirklich nicht den Mut, diesem Mädchen zu sagen, was er für sie fühlte? Er fasste ihre Schultern und drehte sie entschlossen zu sich herum.
„Nein, Vanea! Das wirst du nicht tun“, sagte er fest, „denn ich werde dich nicht gehen lassen, weil ich dich liebe.“
Vaneas Kopf flog hoch. „Das ... das ist nicht wahr!“ rief sie. „Das sagst du nur, weil du weißt, dass ich es hören will. Und du glaubst dich in meiner Schuld und willst sie damit bezahlen.“ Erregt sprang sie auf. „Aber ich bin ja selbst schuld, dass du so handelst. Habe ich nicht selbst gefordert, dass du meine Hilfe in dieser Weise vergiltst? Damals verabscheutest du mich, weil mein Wesen dir fremd und unheimlich war, und hast mein Ansinnen zurückgewiesen. Nun fällt dir die Bezahlung leichter, denn ich unterscheide mich nicht mehr so sehr von den menschlichen Frauen, wie du sagst. Damals sah ich keinen anderen Weg, dich länger bei mir zu haben, als diese schändliche Forderung nach einer Gegenleistung für meine Hilfe. Aber du selbst hast mir klar gemacht, dass man Liebe nicht erzwingen kann. Ich habe eingesehen, dass ich falsch handelte. Ich weiß nun, dass ich niemals einen Mann gegen seinen Willen an mich binden würde, weil auch ich dadurch nie glücklich sein könnte. Nicht Dankbarkeit, nicht Pflichtgefühl sollen einen Mann in meinen Armen halten, sondern Liebe. Nein, sag nicht noch einmal, dass du mich liebst! Ich weiß ja doch, dass es nicht wahr ist. Ich möchte nicht, dass du lügst, um mich glücklich zu machen. Sei mein Freund wie Kandon und Reven und hilf mir auf meinem Weg in deine Welt, aber sprich nie mehr von Liebe zu mir!“
Vanea wandte sich ab und ging zum Feuer zurück. Wie vor den Kopf geschlagen saß Yorn auf dem Schlitten und sah ihr sprachlos nach. Was in aller Welt war in sie gefahren? Er hatte erwartet, sie würde sich mit einem Freudenschrei in seine Arme werfen. Stattdessen wies sie ihn zurück. Sie liebte ihn doch, das hatte sie ja klar zum Ausdruck gebracht. Warum glaubte sie ihm dann nicht, dass auch er sie liebte? Yorn verstand die Welt nicht mehr und schon gar nicht die Frauen! Was hatte er denn nur falsch gemacht? Die Ernüchterung und
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