Das Orakel von Antara
näherten, das bereits zum Greifen nahe vor ihnen lag. Fast fünf Wochen waren vergangen, seit Yorn und seine Gefährten mit Vanea aus dem Nebelreich geflohen waren, und das Mädchen hatte sich zu einer erstaunlich guten Reiterin entwickelt. Die letzten zwei Wochen Ritt hatten die Reisenden bei strahlendem Sonnenschein zurückgelegt. Da sie die Zone des ewigen Eises schon lange hinter sich gelassen hatten, genossen sie nach der langen Kälte die milde Luft des jungen Sommers, der sich hier an den sanften Hängen des aufsteigenden Gebirges in seiner vollen Pracht darbot. Schon waren die nackten Oberkörper der Männer wieder tief gebräunt, und sogar Vaneas weiße Haut hatte eine frische Farbe bekommen, die in reizvollem Kontrast zu ihrem silberweißen Haar stand. Die ersten Blumen und das leuchtende Grün der Landschaft hatten Vanea zuerst immer wieder Ausrufe des Entzückens entlockt, und auch jetzt noch schien sie den Anblick des blühenden Landes förmlich in sich hineinzutrinken.
Yorn hatte zuerst Bedenken gehabt, ob die zarte Königin des Nebelreiches den Anstre ngungen des wochenlangen Ritts gewachsen sein würde, doch mit Verwunderung hatten die Männer festgestellt, dass Vanea ihnen um nichts nachstand, nachdem sie sich erst einmal an die für sie ungewohnte Art der Fortbewegung gewöhnt hatte. Vanea war zwar zierlich, doch ihr Körper stark und biegsam wie eine Schwertklinge. Mit Staunen bemerkten die Männer, dass nicht einmal die Mittagshitze an windstillen Tagen Vanea lästig zu sein schien. Es war, als sauge ihr im ewigen Eis geborener Körper die Hitze auf wie ein Schwamm, als versuche sie, das zeitlebens Entbehrte nun auf einmal in sich aufzunehmen. Zu Kandons Entsetzen, der ihr ständig riet, sich nicht der prallen Sonne auszusetzen, hatte sie von ihrer Hose die Beine bis zum Knie abgetrennt und kurzerhand die Ärmel aus Yorns Hemd gerissen.
„Was willst du?“ hatte sie Kandon gleichmütig erklärt. „Ihr reitet mit nackten Oberkörpern, und ich soll mich unter einem Umhang verstecken? Ich habe mich nach Sonne gesehnt, solange ich denken kann. Nun will ich sie auch genießen!“
Yorn hatte Kandon beiseite genommen. „Lass’ sie!“ hatte er gesagt. „Ich glaube, sie weiß viel besser als wir alle, was ihr guttut.“
Vanea hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit Kandon voranzureiten, während Reven und Yorn die Nachhut bildeten. Yorns Herz brannte, wenn er die schlanke Gestalt mit der im Wind fliegenden weißen Mähne vor sich her reiten sah, denn Vanea hatte es verstanden, jeder weiteren Annäherung geschickt aus dem Weg zu gehen. Mehrmals hatte Reven versucht, mit ihr über Yorn zu sprechen, doch sie hatte immer einen Grund gefunden, dem Gespräch auszuweichen. Sie pflegte mit den Männern gute Kameradschaft, doch irgendwie hatten alle drei das Gefühl, als habe Vanea eine unsichtbare Mauer um sich errichtet, die es unmöglich machte, sich ihr zu nähern.
„Ich verstehe das nicht“, sagte Reven an diesem Nachmittag zu Yorn, als sie wieder hinter Kandon und Vanea her ritten. „Jedes Mal, wenn ich versuche, mit ihr zu sprechen, ist es, als wisse ich nicht mehr, was ich ihr sagen wollte. Und jedes Mal, wenn ich dann nach Worten suche, hat sie plötzlich etwas zu tun oder sieht etwas Interessantes, das sie unbedingt erklärt haben muss. Ich habe immer das Gefühl, sie sei ein Nebel, der zerstiebt, sobald man ihn fassen will. Sag', was du willst, aber sie hat nicht alle Kräfte verloren, die sie im Nebelreich besaß.“
„Nein, das hat sie nicht, das spüre ich auch“, sagte Yorn niedergeschlagen. „Aber das stört mich nicht mehr, denn ich weiß, dass ich sie liebe, wie sie ist. Schau sie doch nur an! Ist sie nicht ein Wunder der Götter? Ich Unseliger! Ich hielt das Glück in den Händen, aber es entglitt mir, ehe ich es fassen konnte.“
„Ja, sie ist schön“, antwortete Reven. „Aber es war nicht dein Fehler, dass sie dir entglitt. Sie hat eine Meinung gefaßt und gibt niemandem Gelegenheit, diese zu widerlegen. Sie ist sehr stolz und will kein Almosen. Sie glaubt, du habest nur aus Dankbarkeit und Mitleid mit einer Heimatlosen gesagt, dass du sie liebst. Und das kann sie nicht ertragen. Darum hat sie diesen Wall um sich errichtet, und keinem von uns wird es gelingen, ihn zu durchbrechen, wenn sie es nicht will. Es tut mir leid, Yorn, aber ich weiß nicht mehr, wie ich dir helfen kann. Flehe zu Saadh, vielleicht hat er ein Einsehen und öffnet ihr
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